Die Stimmung am Oranienplatz ist oft angespannt im Januar 2014, denn mit der Kälte kommen die Zweifel, ob sie wirklich noch einen zweiten Winter durchhalten können. Wozu, wenn sich in nächster Zeit nichts ändern wird, weder für die Flüchtlinge am Platz noch für die 100.000 Flüchtlinge in Deutschland? Weil niemand ein Machtwort sprechen kann, weil es niemanden gibt, der Macht hat? Aber auch, wenn es keine feste Struktur gibt, so kristallisieren sich doch einige Sprecher heraus. Am besten geeignet wäre wohl Mahadi Ahmed.
Der 29 Jahre alte Sudaner weiß, dass der Oranienplatz längst ein Symbol geworden ist für die Situation der Flüchtlinge in ganz Europa. Sein Vorteil: Er kann mit jedem ein Gespräch beginnen, ist charmant, ist per Telefon erreichbar, lächelt viel und hat sogar Verständnis, wenn jemand kein Verständnis hat, für das Camp und diese Art des Protests.
Mahadi trägt immer ein sauberes Hemd, würde auch ohne seine Brille wie ein Intellektueller aussehen. Er spricht ein schönes Deutsch und wie bei allen hier im Camp, dauert es auch bei ihm nicht lange, bis er eine Geschichte aus Afrika erzählt: von Jac, seinem besten Freund, der jetzt Rebell ist und gegen die Regierung in Südsudan kämpft. Jeder der Camp-Bewohner hat eine Geschichte zu erzählen, die zeigt, dass ihr Horizont größer ist als die Gegend zwischen Kottbusser Tor und Moritzplatz. Manche Bewohner sagen, sie haben alles zurückgelassen und jetzt nur noch ihre Geschichten.
Mahadis Geschichte handelt von einer Flucht aus dem Sudan, über die Türkei nach Griechenland, fünfmal Gefängnis, von Patras mit der Fähre, versteckt auf Gemüse-LKWs nach Brindisi, von dort weiter nach Norden. „In Italien hieß es, geh nach Frankreich“, sagt er, „in Frankreich sagten sie, geh nach Belgien.“ So ging es weiter über die Niederlanden schließlich nach Hildesheim, nach Braunschweig, in die Flüchtlingslager. „Dort konnte ich nichts tun“, sagt er. „Nur warten und das über Monate.“
Der Vorteil, überall, wo er war, hat er versucht, die Sprache zu lernen, Türkisch, Französisch, Niederländisch. Vielleicht fällt ihm deshalb das Deutsche nicht mehr so schwer. Mahadi sagt: „Ich habe schon überall gewohnt in Europa, aber im Vergleich zu allen Orten zuvor, ist der Oranienplatz ein Hotel für mich gewesen.“
Doch der schlaue Mahadi will kein Sprecher sein. Er will helfen, ja, er übersetzt wo er kann, er diskutiert eifrig mit, aber als Sprecher der Gruppe, dazu ist er inzwischen schon zu weit weg. Er wohnt inzwischen mit einer Deutschen zusammen in einer Wohnung.
Die meisten Besucher sagen, es sei schwierig, eine Struktur in dem Camp zu erkennen. Das ist etwas, auf das die Camp-Insassen stolz sind: Es gibt keinen Chef, niemanden, der anderen sagen kann sie tun und lassen sollen. „Das ist unsere Stärke“, sagen sie. Das wäre auch schwierig, weil die Probleme der Flüchtlinge so unterschiedlich sind – und nicht einmal alle Flüchtlinge sind. Die Bewohner organisieren sich aber in Gruppen. Es gibt etwa die Küchengruppe, die Info-Point-Gruppe oder die Gruppe „Infrastruktur“. Zu letzterer gehört Ali.
Seit Oktober schläft er nicht mehr in einem großen Zelt. Der stille 25 Jahre alte Mann aus Niger hat sich seine eigene Hütte gezimmert, zwischen dem großen Info-Zelt und dem, in dem Napuli meist sitzt. Er ist stolz auf diese vier Wände, auch wenn er weiß, gegen die Ratten, mit denen das Camp in letzter Zeit zu kämpfen hat, hilft es nichts.
Er schiebt eine Plastikflasche unter der Wand durch und zeigt so, wie sie sich unter seiner Wand hindurchgraben. „Aber Tiere sind doch normal in der Großstadt“, sagt er, „ich habe auch schon einen Fuchs im Camp gesehen.“ Ali trägt saubere Kleidung, geht jeden zweiten Tag in den Waschsalon und nutzt auch das kostenlose Angebot für eine Dusche bei der Caritas. Von dort hat er auch seine Zahnbürste. „Hier bin ich wirklich frei“, sagt er.
Er mag es, dass es keine feste Struktur gibt auf dem Oranienplatz, in seinem Flüchtlingslager in Halle an der Saale hatte er zu viel Struktur. „Ich musste mich anmelden und abmelden“, sagt er, „und ich durfte nichts tun, nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen.“ Es waren verlorene Monate für ihn. Hier im Camp wird er geachtet, weil er gut mit seinen Händen umgehen kann, anderen zeigen, wie sie ihre Zelte besser gegen Regen schützen – und weil er etwas Englisch kann. Das Reden über die großen Ziele aber, das überlässt er lieber denen, die lauter sind als er. Er ist froh, wenn er sich zurückziehen kann.
Am Oranienplatz herrscht so etwas wie Anarchie. Ein Zustand, der schon ein Jahr und vier Monate andauert. Jeder darf kommen, jeder darf bleiben, etwas Reis mit Fleisch findet sich für alle, die Mittags gegen 14 Uhr vorbeikommen. Dann gibt es die einzige gemeinsame Mahlzeit. Die wenigsten wissen, dass es auch ein Zelt gibt, in dem keine Flüchtlinge wohnen, sondern, das ganz in russischer Hand ist. Oncu, ein 46 Jahre alter Bulgare aus Plovdiv, wird von den fünf Russen geduldet.
Die Afrikaner sagen, sie reden mit denen kein Wort: „Wir sprechen kein Russisch“, sagt einer, „wir stören einander aber nicht.“ Die Russen schlafen tagsüber, und schauen abends Filme aus ihrer großen russischen DVD-Sammlung, die Heizungen laufen und die Aschenbecher füllen sich mit Zigarettenstummeln. Oncu sagt, er habe einfach keine Wohnung, von dem Protest der Afrikaner um einen Aufenthaltsstatus wisse er wenig. Aber das Essen schmecke ihm.
Das ist vielleicht das größte Problem, dass durch fehlende Strukturen entsteht: Der Protest verwässert, plötzlich geht es auch darum, einfach günstig und mit Spaß durch den Winter zu kommen. Es gibt Drogenabhängige und Alkoholiker, die sich nur zur gern auch am Feuer wärmen, Passanten nach einer Zigarette fragen und Fotografen oder Anwohner von weitem anbrüllen. Den Flüchtlingen gefällt das nicht, aber was sollen sie sagen: Geht bitte, wir haben das Platzrecht?
Wer darf für die Lampedusa-Leute sprechen, jene, die später kamen und zum Teil andere Probleme haben? Wofür wird das Geld verwendet? Was passiert im Falle einer Schließung des Camps? Immer wieder kristallisieren sich Wortführer bei Gesprächen mit Politikern heraus. Einer von ihnen ist Bashir (Mitte).
Bashir ist ein kräftiger 42 Jahre alter Nigerianer mit lauter, tiefer Stimme und einer auffälligen Narbe am linken Auge. Er ist derzeit der anerkannte Sprecher der Lampedusa-Flüchtlinge – aber das könne sich täglich ändern, sagen andere aus dieser Gruppe. Er hat mit Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) diskutiert, aber er gilt als aufbrausend. Außerdem ist seine Lage geschwächt, sagen einige Camp-Bewohner, weil er nicht mehr am Oranienplatz wohnt. Er hat mit vielen anderen das Angebot angenommen, bis zum Frühjahr in eine vorläufige Bleibe in Wedding zu ziehen. Doch diese räumliche Trennung bewirkt auch, dass er an Macht im Camp verloren hat.
Wenn man Bashir fragt, warum er so aufbrausend ist, dann sagt er, dass für ihn immer die grundsätzlichen Fragen eine Rolle spielen und auch er kommt schnell auf das Wort Freiheit zu sprechen. „Was uns hierher bringt, ist der Wunsch, frei zu sein“, sagt er. „Ich habe soviel hinter mir gelassen.“ Zu verlieren habe er nichts. Seine Frau und seine Kinder seien tot, sagt er. „Die einzige Lösung für uns ist, das Recht auf Arbeit zu bekommen.“ Was soll sein Leben sonst wert sein?
Bashir ist Mitte Januar wieder aufgefallen, als er im Streit mit der Polizei und BVG-Mitarbeitern begann, sich mit den BVG-Mitarbeitern zu prügeln und in ihre Hand zu beißen. Die Gruppe der Sprecher war auf dem Weg zur Integrationsbeauftragen Dilek Kolat (SPD) und wurden von Kontrolleuren in U-Bahn aufgehalten. Als sie dann die Polizei riefen, geriet die Situation außer Kontrolle, wahrscheinlich weil es für Bashir zu diesem Zeitpunkt es nicht mehr um fehlende Fahrscheine ging, sondern um die Freiheit aller Flüchtlinge.
Die Bewohner haben mitten in Berlin eine Wohnform gewählt, die es sonst nur in Entwicklungsländern gibt und doch einer gewissen Lagerfeuerromantik nicht entbehrt. Jeden Abend stehen sie gemeinsam an einem großen Feuer zusammen. Napuli Langa aus dem Sudan ist jemand, der die Leute zusammenbringen kann. Sie wird oft interviewt, ist eine charismatische Sprecherin und wird von allen respektiert. » Video-Interview mit Napuli Langa.
„Freiheit“ ist das Wort, was bei ihr sehr häufig fällt. Es ist das letzte Argument von allen. Wie Mahadi formt auch sie ruhige und besonnene Sätze, sie gestikuliert sanft und nimmt immer wieder die Handhaltung ein, die man sonst nur von Angela Merkel kennt: wenn sich alle Finger an der Spitze berühren. Sie ist sich bewusst über die Macht, die das Camp allein schon dadurch hat, dass sie alle so lange durchgehalten haben. „Wir werden inzwischen schon im Ausland angesprochen“, sagt sie. ‚Ihr seid die Oranienplatz-Flüchtlinge’ hieße es dann bewundernd.
„Dabei ist unser Problem kein Kreuzberger Problem, sondern eines, das von hier aus größer werden muss: Berlin, Deutschland, Europa.“ Auch Napuli Langa, die ihr Alter nicht verraten will, war bei den Treffen mit Dilek Kolat dabei. Sie gibt sich dann kompromisslos und ist anschließend enttäuscht, wenn ihre Maximal-Forderungen für alle Flüchtlinge (Keine Lager, Abschiebung und Residenzpflicht) in Deutschland nicht erfüllt werden. Das gute daran ist, dass sie in ihrer Art konsequent wirkt, aber ohne Kompromisse wird eine Einigung sich nicht herbeireden lassen.
Sie schläft nicht immer in den Zelten, sondern oft in der zum Flüchtlingsheim umgebauten Schule in der Ohlauer Straße. Doch die meiste Zeit tagsüber ist sie im Camp und hält dort die Kontakte zu Canan Bayram von den Grünen oder zu Mahadi und den anderen Sprechern der verschiedenen Gruppen.
Napuli versteht das sprechen in Bildern. „Ich bin nackt gekommen“, sagt sie, „und ich habe alle meine Rechte Zuhause zurückgelassen.“ Niemand hier im Camp sei in Deutschland, um den Deutschen das Geld zu nehmen. „Aber wir wollen menschenwürdig behandelt werden.“ Große Sätze, die sie am vergangenen Wochenende auch auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz auf der Bühne vorgetragen hat. Doch auch sie sucht nicht die große Bühne. Viel lieber sitzt sie im dunklen Zelt spricht mit anderen Flüchtlingen, singt zur Gitarre.
- 8. September 2012 Nach einer Auftaktdemonstration durch die Würzburger Innenstadt laufen rund 50 Flüchtlinge aus dem ganzen Bundesgebiet zu Fuß von Würzburg nach Berlin.
- 6. Oktober 2012 Nach 28 Tagen und fast 600 Kilometern Fußmarsch treffen rund 70 Flüchtlinge und 100 Unterstützer am Oranienplatz in Kreuzberg ein und beginnen ihren Protest gegen Lager- und Residenzpflicht sowie Abschiebungen. Kreuzberg duldet sie.
- 13. Oktober 2012 Mit damals rund 6000 Teilnehmern kommt es zur größten Demonstration für die Rechte von Flüchtlingen in der Bundesrepublik.
- 24. Oktober 2012 In einem provisorischen Camp am Brandenburger Tor treten einige der Flüchtlinge in einen ersten Hungerstreik, es gibt mehrere Verhandlungen mit Mittes Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD).
- 1. Dezember 2012 Die Wärmebusse am Pariser Platz werden von der Polizei entfernt und funktionsuntüchtig gemacht. Der zweite Hungerstreik wird nach zehn Tagen abgebrochen.
- 8. Dezember 2012 Flüchtlinge und Aktivisten besetzen gemeinsam die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule an der Ohlauer Straße in Kreuzberg. Bis heute wohnen bis zu 200 Flüchtlinge in der Schule.
- So sieht es am Oranienplatz zurzeit aus. Foto: dpa
- 23. Juli 2013 Die Polizei ermittelt am Oranienplatz gegen einen Asylbewerber wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung. Jedoch habe sich die Tat bisher nicht nachweisen lassen.
- 10. Oktober 2013 20 Flüchtlinge stürmen in das Foyer der Vertretung der EU-Kommission in Mitte. Die Aktion geschieht vor allem als Protest gegen die Katastrophe vor Lampedusa, bei der 300 Flüchtlinge sterben. Kurz darauf ziehen einige Flüchtlinge in ein Gebäude im Stadtteil Wedding.
- 24. November 2013 Bei einer versuchten Räumung des Camps kommt es zu einer Demonstration von rund 600 Menschen. Dabei werden 31 Beamte verletzt und fünf Personen festgenommen. Innensenator Frank Henkel (CDU) will hart bleiben und auf der Räumung des Camps bestehen. Senatorin Dilek Kolat (SPD) will vermitteln.
- Text: Sören Kittel
- Fotos: Reto Klar
- Produktion: Julius Tröger, Moritz Klack