Berlinwahl 2016

Diese Kandidaten wohnen am weitesten weg von ihren Wählern

Etwa die Hälfte der Parlamentarier wird direkt ins Abgeordnetenhaus gewählt. 652 Direktkandidaten treten in 78 Wahlkreisen an. Doch einige wohnen ganz woanders.

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Das Strandbad Orankesee, die Felder von Malchow, aber auch Plattenbauten und das ehemalige Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen: Der Wahlkreis Lichtenberg 2 im Osten der Stadt hat viele Gesichter. Doch bei Wahlen war er bisher eines: eine Hochburg der Linken. Bei der letzten Abgeordnetenhauswahl sicherte sich deren Direktkandidat, der Berliner Linken-Vize Wolfgang Albers, hier mit 34 Prozent einen Sitz - obwohl er am anderen Ende der Stadt wohnt. Nun tritt Albers erneut in Lichtenberg an. In seiner mondänen Wohngegend am Wannsee hätte der Chirurg wohl kaum Chancen: Der Wahlkreis 7 in Steglitz-Zehlendorf ist fest in CDU-Hand. Der Unionskandidat Michael Braun holte vor fünf Jahren 44,4 Prozent, die Kandidatin der Linken gerade einmal zwei Prozent.

Warum kandidieren Sie so weit entfernt?

Erol Özkaraca
SPD
Der Sozialdemokrat engagiert sich nach wie vor in Neukölln, obwohl er schon vor Jahren nach Frohnau gezogen ist. Die Familie habe ein Haus mit Garten gewollt, das gebe es im Neuköllner Norden nun mal nicht. „Ich bin da eigentlich nur zum Schlafen, kenne mich dort kaum aus.“ Ihm sei aber klar, dass das durchaus Sozialneid im Wahlkreis auslösen kann.
Wolfgang Albers
DIE LINKE
Der Chirurg aus Wannsee ist seit 2006 im Abgeordnetenhaus - und überzeugter Experte für Gesundheits- und Hochschulpolitik. „Das Entscheidende ist, dass man gute Sachpolitik macht.“ Im Lichtenberger Wahlkreis ist er regelmäßig und hält Kontakt über sein Büro. „Das Einzige was nervt, ist der 34 Kilometer lange Weg im Stadtverkehr.“
Iris Spranger
SPD
Die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende hat lange in Marzahn-Hellersdorf gewohnt, ist dort 1994 in die Partei eingetreten „Es ist ja kein Geheimnis, ich habe meinen Mann kennengelernt und bin vor drei Jahren mit ihm zusammengezogen - in Frohnau. Ich habe aber keine Minute überlegt, ob ich politisch nach Reinickendorf gehe.“
Anja-Beate Hertel
SPD
Ihre politische Heimat war lange Reinickendorf, wo sie auch wohnt. Nach einem internen Streit verlegte sie den Schwerpunkt ihrer Parteiarbeit nach Neukölln-Buckow. „Als Innenpolitikerin stehe ich den Positionen von Heinz Buschkowsky und der Neuköllner SPD in der Innen- und Integrationspolitik nahe, die in anderen Bezirken lange nicht mehrheitsfähig waren.“
Holger Krestel
FDP
Der Liberale ist schon lange mit Tempelhof-Schöneberg verbunden. Hier hat er 1974 seinen Schulabschluss gemacht. „Bis heute bin ich im Bezirk aktiv“. Von 2010 bis 2013 hat er ihn im Bundestag vertreten, war zuvor auch im Abgeordnetenhaus. „In Spandau wohne ich nicht zuletzt, um mich mit meiner Frau um meine 86-jährige Mutter zu kümmern.“
André Lefeber
PIRATEN
Der Kandidat der Piraten wohnt noch in Lichterfelde, doch es zieht ihn immer wieder in den Südosten der Stadt. „Da viele meiner Bekannten und Freunde im Bezirk Treptow-Köpenick wohnen, finden viele meiner Freizeitaktivitäten dort statt, wo ich kandidiere.“ Er plane sogar einen Umzug in die Gegend. „Doch dies scheiterte bisher an den Mieten.“

Albers gehört zu den zehn Berliner Direktkandidaten, die mehr als 20 Kilometer von ihrem Wahlkreis entfernt wohnen – weit weg vom Lebensumfeld der Wähler, denen sie sich stellen. Dies haben Berechnungen der Berliner Morgenpost für alle 652 Direktkandidaten zur Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus ergeben. Für den Linken-Politiker Albers ist die Entfernung kein Problem. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Menschen woanders arbeiten als sie wohnen. „Wir brauchen schließlich keine Provinzpolitiker, sondern Leute, die Fachkompetenz ins Parlament bringen“, so der Linken-Kandidat. Er sagt aber auch, dass man sich kümmern soll, wo man angesprochen wird. Und andere Politiker werben besonders jetzt im Wahlkampf mit ihrer lokalen Verbundenheit.

Die Auswertung gibt Hinweise, wo die Parteien mit ihrem Spitzenpersonal verwurzelt sind - und wie sie die Kandidaten strategisch einsetzen. Albers gilt für die Linke als unverzichtbarer Gesundheitsexperte, der in seinem Lichtenberger Wahlkreis aufgrund der Parteien-Vorliebe und seiner Bekanntheit große Chancen auf ein Direktmandat hat. Wie auch Torsten Schneider von der SPD, der vor allem als Finanzexperte geschätzt wird. Dass sie zusätzlich über Listenplätze abgesichert sind, zeigt, wie wichtig beide für ihre Parteien sind. Über die Zweitstimme könnten aus dieser Zehner-Gruppe auch SPD-Landesvize Iris Spranger, Anja-Beate Hertel (SPD) und der ehemalige FDP-Bundestagabgeordnete Holger Krestel noch ins Abgeordnetenhaus kommen, falls es mit dem Direktmandat nicht klappt. Die anderen müssen sich in ihrem Wahlkreis durchsetzen.

„Es ist immer besser, wenn Politiker im Bezirk leben“

Wir haben Berliner gefragt: „Sollte ein Direktkandidat auch in der Gegend wohnen, in der er antritt?“ Video: Sven Wolters, Elisa von Hof

Viele Politiker sind eng mit ihrem Wahlkreis verwurzelt, aber irgendwann innerhalb der Stadt umgezogen: SPD-Landesvize Spranger gilt eigentlich als alteingesessene Marzahn-Hellersdorferin und ihr Partei-Genosse Erol Özkaraca (SPD) ist weiter in Neukölln engagiert, wie im Türkisch-Deutschen-Zentrum. Dass man nicht zwingend im Wahlkreis leben muss, um ihn zu verstehen, zeigt auch Karlheinz Zesch: Der Linken-Politiker saß bereits zwölf Jahre in Spandau in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) - obwohl er in Treptow-Köpenick wohnt. Dort sind die drei Piraten-Kandidaten Andrej Springer, Andreas Kotes und André Lefeber allerdings bisher nicht in der Lokalpolitik aufgefallen. Ihre Chancen sind auch gering, die Piratenpartei zeigt aber Präsenz.

In einem anderen Wahlkreis zu kandidieren, ist keine Seltenheit bei dieser Abgeordnetenhauswahl: Jeder vierte aller 652 Direktkandidaten tritt sogar in einem anderen Bezirk an, als er oder sie wohnt. Dabei kommen aus dem Bezirk Mitte mit 24 Kandidaten die meisten Politimporte. Allerdings lassen sich genauso viele Kandidaten aus anderen Teilen der Stadt dort aufstellen. So konkurriert Berlins CDU-Chef Frank Henkel im Wahlkreis Mitte 1 mit Ramona Pop, der Spitzenkandidatin der Grünen. Beide wohnen aber im Bezirk Pankow. Am bodenständigsten ist Spandau, 90 Prozent der Kandidaten kommen auch aus dem Bezirk. Berlinweit benötigen aber immerhin 468 Kandidaten (72 Prozent) nicht mehr als fünf Kilometer Luftlinie bis zu ihrem Wahlkreis.

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Was die Anwendung zeigt

Die Grafik zeigt die Erststimmen-Wahlkreisvorschläge für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 – also die Direktkandidaten. Die Daten für die Auswertung stammen von der Landeswahlleitung. Sie enthalten die Postleitzahl der Wohnanschrift der Kandidaten sowie den Wahlkreis, in dem sie antreten. Genaue Adressen werden aus Datenschutzgründen nicht angegeben.

Bei der Entfernung handelt es sich um keine reale Route, sondern um die Luftlinie zwischen den Mittelpunkten des jeweiligen Postleitzahlengebiets und des Wahlkreises. Da es zu Abweichungen mit der tatsächlichen Wohnanschrift kommen kann, wird auf eine konkrete Kilometerangabe verzichtet. Stattdessen werden fünf Entfernungskategorien ausgewiesen - von „bis 5 km“ bis „über 20 km“. Innerhalb dieser Kategorien sind die Kandidaten nach Parteien angeordnet, die Reihenfolge entspricht dem Ergebnis der letzten Abgeordnetenhauswahl.

Wenn sich Postleitzahlengebiete und Wahlkreise überschneiden, werden die Kandidaten der ersten Kategorie zugeordnet: „bis 5“ bedeutet hier zugleich, dass die Politiker relativ nah „bei ihren Wählern“ wohnen. Wie viele es sind, wird zudem bei der Abfrage eines Wahlkreises ausgewertet – und ist auch über Facebook und Twitter teilbar.