Zum Schluss zog Merkel selbst ein Fazit in Sachen Klimaschutz: Gemessen am Zwei-Grad-Ziel sei während ihrer Kanzlerinnenschaft „nicht ausreichend viel passiert“, sagte sie im Juli. Sie mahnte nun mehr Tempo an und lobte die „Fridays for Future“-Bewegung als „Antriebskraft“. Die „Klimakanzlerin“, als die sie sich zum Anfang ihrer Ära inszenierte, war Merkel nicht.
So bremste sie für die deutsche Autoindustrie strengere EU-Vorgaben beim CO2-Ausstoß aus. In ihrer Amtszeit stieg der SUV zum meistverkauften Pkw-Typen auf. Der Fukushima-Schock bewegt Merkel zum schnellen Atomausstieg. Doch über einen Ausstieg aus der Kohle wird erst spät verhandelt, der Ausbau erneuerbarer Energien stockt. Und noch im April musste sogar das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu einem besseren Klimaschutzgesetz verdonnern.
Die Ära Merkel begann mit einer Rekord-Arbeitslosenquote von fast 12 Prozent und sank bis 2019 auf weniger als die Hälfte - mit einem kleinen Dämpfer während der Finanzkrise von 2008/2009. Die Weichen für diese Entwicklung wurden durch die Hartz-IV-Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder (SPD) gestellt. Erst durch Corona wurde dieser Trend vorerst gestoppt.
Merkel setzte die Reformen konsequent fort. Die Tiefststände bei der Arbeitslosigkeit wurden aber auch durch einen zunehmenden Niedriglohnsektor erkauft. Die Schere der Haushaltseinkommen zwischen und Arm und Reich ist in ihrer Regierungszeit gewachsen. Durch die Einführung des Mindestlohns konnte dies ab 2015 abgemildert werden. Doch auch die Gefahr von Altersarmut ist gewachsen.
Der Staat hat sich aus vielen Bereichen zurückgezogen. So wurden Krankenhäuser zunehmend privatisiert und das Gesundheitssystem auf mehr Wirtschaftlichkeit getrimmt. Die Corona-Pandemie hat aber insbesondere die Schwächen bei der Digitalisierung für viele spürbar gemacht. Zugang zu 50-MBit-Breitband-Internet sollten spätestens 2018 alle Haushalte haben. Doch ländliche Gebiete sind weiter abgehängt.
In den Städten mangelt es an bezahlbarem Wohnraum. Doch für die finanziell Schwächsten entstand kaum neuer. Im Gegenteil: Fast eine Million Sozialwohnungen gingen verloren. In den Kita-Ausbau hat Deutschland jedoch kräftig investiert - auch wenn vielerorts die Wartelisten auf einen Platz noch lang sind. Heute gehen immerhin dreimal so viele Kinder unter drei Jahren in die Kita als zu Beginn der Ära Merkel.
„Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!“, sagte Merkel am 31. August 2015, als Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen und das Land vor neue Herausforderungen stellten. Und kein Satz der Kanzlerin hat sich so eingeprägt wie dieser. Allein 2015 werden 890.000 Schutzsuchende zunächst registriert und von tausenden Freiwilligen unterstützt.
Merkels anfängliche Willkommenspolitik bringt der AfD massiven Zulauf und das Verhältnis zur Schwesterpartei CSU fast zum Bruch. Der Kurs in der Asylpolitik wird härter - europaweit. Schon im März 2016 präsentierte die Kanzlerin das EU-Türkei-Abkommen. Mit dem Erdogan-Deal werden Menschen von den EU-Grenzen zurückgehalten. Europa macht dicht - auch am Mittelmeer, der tödlichsten Grenze der Welt.
Angriffe auf Asylbewerber*innenheime, Bedrohung von Lokalpolitiker*innen, offener Hass in sozialen Netzwerken: Straftaten von Rechts haben in den vergangangenen Jahren neue Höchstwerte erreicht - mit den Anschläge von München, Halle, Hanau und der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke als traurigen Höhepunkten. Rechtextremimus zeigt sich lauter, brutaler und findet öffentliche Plattformen.
Auch die deutschen Sicherheitsbehörden und die Bundeswehr haben das Problem in den eigenen Reihen. Terrorermittlungen gegen Soldaten wie Franco A. oder die Auflösung des Frankfurter SEK zeigen die Gefahren überdeutlich. Für rechtsextreme Umtriebe bei der Bundeswehr gibt es mittlerweile eine Koordinierungsstelle. Für die Polizei lehnte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine explizite Rassismus-Studie ab, beauftragte aber eine zum Polizist*innen-Alltag.
Das Deutschland von heute ist ein anderes als das vor 16 Jahren. Ausgerechnet unter der Union wurde die Wehrpflicht 2011 nach 55 Jahren ausgesetzt. Doch insbesondere das Familienbild hat sich verändert. So fällt in Merkels erste Amtszeit die Einführung des Elterngeldes in 2007. Der Anteil der Väter, die dies in Anspruch nehmen, steigt seitdem von Jahr zu Jahr.
Und die Ehe ist seit 2017 für alle möglich - auch für gleichgeschlechtliche Paare. Merkel erklärte die Abstimmung im Bundestag ausdrücklich zur Gewissensfrage ohne Fraktionszwang, stimmte selbst allerdings mit Nein. Auch der Begriff Geschlecht wurde in Merkels Zeit neu diskutiert und der dritte Geschlechtseintrag "divers" eingeführt. Die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen wird langsam kleiner.
Erst die Euro-Rettung, zuletzt der Afghanistan-Rückzug: Außenpolitisch musste Merkel ständig in den Krisen-Modus schalten - und wurde dabei zur gefragten Gesprächspartnerin. Immerhin führt sie seit 2006 ununterbrochen die Forbes-Liste der 100 mächtigsten Frauen der Welt an. Auch schwierige Kontakte ließ sie nicht abreißen, wie zu Wladimir Putin. Dass sich ihr Verhältnis aber abgekühlt, zeigt auch die Liste der offiziellen Besuche.
Deutschlands Exporte belegen, wie stark China in ihrer Ära geworden ist. Bei Rüstungsexporten stand ihre Regierung in der Dauerkritik. Andere forderten deutlich mehr Ausgaben fürs eigene Militär ein. Wie sich Deutschland künftig militärisch weltweit engagieren wird, ist unklar. Die Zahl der Bundeswehrsoldat*innen in Auslandseinsätzen ist seit 2005 gesunken, allerdings gibt es mehr einzelne Einsätze.
Merkel ist schon so lange Kanzlerin, dass kurzzeitige Phänomene ihr Comeback feiern - wie Bubble-Tea, der bereits um 2010 ein Trendgetränk war. Jetzt ist der Hype wieder zurück, was auch die Suchanfragen bei Google zeigen. Den quietschbunten Teenie-Drink aus Taiwan gibt es nun auch in der Bio-Version. Wie lange die Nachfrage nach Bubble-Tea diesmal anhält, ist unklar. Aber "Bio" ist bei Lebensmitteln ein fester Trend - mit steilen Umsatzkurven.
Dagegen sind die Videotheken im Zeitalter des Streaming kein Geschäft mit Zukunft mehr und deshalb längst aus dem Straßenbild verschwunden: Der Videotheken-Verband IVD hat seit Beginn von Merkels Amtszeit 97 Prozent seiner Mitglieder verloren. Aber damals gab es noch nicht einmal das iPhone.