Berlin erlebt seit 2007 einen Babyboom, 35.182 Kinder unter einem Jahr leben heute hier. Damit ist der Anteil der Babys von 8,6 auf 9,6 pro 1000 Einwohner gestiegen. Und Prenzlauer Berg ist zum Symbol dieser Entwicklung geworden - mit seinen Kindercafés, der hohen Dichte von Holz-Laufrädern und den Latte-Macchiato-Müttern. Seit 1991 hat sich hier der Anteil der Einwohner, die jünger als ein Jahr sind, tatsächlich verdoppelt. Im Vergleich der 23 Altbezirke lag Prenzlauer Berg auch 2016 mit 12,7 Babys pro 1000 Einwohner an ganz oben. Doch seit seinem Spitzenjahr 2009 zeigt der Trend dort nach unten. Nun setzt Friedrichshain (12,5) zum Überholen an, wie eine Auswertung der Berliner Morgenpost zeigt.
„Es fährt hier ein Kinderwagen nach dem nächsten”
„Prenzlauer Berg wächst aus seinem Babyzeitalter heraus”, sagt Jörn Ehlert, Bevölkerungsexperte beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. An dem Mythos, dass die Frauen in Prenzlauer Berg besonders viele Kinder bekommen, sei nie etwas dran gewesen, sagt Ehlert. Im Gegenteil: Mit einer Geburtenziffer von durchschnittlich 1,29 Kindern je Frau lag die Gegend 2015 sogar deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 1,5. Aber es wohnen noch immer überdurchschnittlich viele Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 49 dort. Doch ab jetzt altert Prenzlauer Berg.
Baby-Rangliste 2016 Diese Gegenden sind Prenzlauer Berg dicht auf den Fersen
In den 90er-Jahren zogen die alten Gründerzeithäuser, Szenecafés und Alternativkultur junge Künstler und Studenten in die Gegenden um den Kollwitz- und Helmholtzplatz. Viele etablierten sich im Beruf, blieben im Kiez und bekamen Kinder. Szene-Mythos und alternatives Familien-Flair zogen andere nach. Forscher beobachten dabei zudem selbstverstärkende Prozesse. „Wenn jemand ein Kind bekommt, kann das einen positiven Einfluss auf Geburtenentscheidungen im Freundeskreis oder der Familie haben”, sagt Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Friedrichshain wurde erst später als Szenekiez entdeckt und macht nun offensichtlich eine ähnliche Entwicklung durch - nur eben zeitversetzt.
Der gesamte Berliner Babyboom trifft zusammen mit der Einführung des Elterngelds im Jahr 2007. Ob das allein an den finanziellen Anreizen liegt, ist aber fraglich. Bevölkerungsforscher Klüsener ist überzeugt, dass Familienpolitik langfristig einen Einfluss hat. Da aber viele Aspekte in eine Geburtenentscheidung einfließen, und politische Weichenstellungen häufig erst später wirken, sei der Nachweis eines direkten Effekts sehr schwierig. Im Fall des Berliner Babybooms dürfte auch der starke Zuzug eine größere Rolle gespielt haben, der Mitte der Nullerjahre auch in anderen deutschen Großstädten zu beobachten war. “Gerade wenn der Zuzug nach dem Abschluss der Ausbildung erfolgt, kann er relativ schnell zu einer höheren Geburtenrate beitragen“, sagt Klüsener.
Aufwärtstrend fast nur in den Ost-Bezirken
In Berlin spiegelt sich die gesamtdeutsche Entwicklung wie im Brennglas wider. Im Zeitraum seit der Wiedervereinigung, ist fast nur im Ostteil ein Aufwärtstrend zu erkennen - einzige Ausnahme im Westen Berlins ist Reinickendorf. Doch die Ostbezirke kamen von einem äußerst niedrigen Niveau. So war Marzahn 1991 mit 4,6 Babys pro 1000 Einwohnern (2016: 9,4) das Schlusslicht. “Nach dem Mauerfall verschoben viele junge Frauen im Osten angesichts der ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Verwirklichung ihrer Familienpläne”, sagt Klüsener. Die Geburtenrate sackte in Ostdeutschland zwischenzeitlich dramatisch ab - 1994 auf den niedrigsten Stand, der jemals gemessen wurde. Davon erholte sich der Osten wieder. In der aktuellen Rangliste der babystärksten Berliner Altbezirke liegen mittlerweile acht Gegenden aus dem Ostteil auf den ersten zehn Plätzen.
Berlins neue Babykieze So hoch ist der Anteil der Säuglinge
Die Karte zeigt detailliert, wo heute in Berlin die meisten Säuglinge zu Hause sind - und die Entwicklung der Kieze in den vergangenen zehn Jahren. Ausgerechnet Prenzlauer Berg stemmt sich dabei gegen den Boom seit 2007, besonders stark im Bötzowviertel und rund um die Winsstraße. In nur sechs der 15 Kieze des Altbezirks zeigt der Trend nach oben. Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für Friedrichshain: In nur drei von zwölf Kiezen gibt es einen Abwärtstrend. In Friedrichshain leben besonders viele Babys im Stralauer Kiez und rund um die Richard-Sorge-Straße.
Die Karte zeigt aber auch deutlich, dass der Babyboom nicht allein von den angesagten Gegenden der Innenstadt getragen wird. Sie spiegelt zudem jüngste Entwicklungen in der Stadt wider. So ist die Gegend rund um die Motardstraße in Spandau die Nummer eins im Vergleich der Kieze. Die Zahl ist dort sprunghaft angestiegen - auf den Rekordwert von 22,2 Babys pro 1000 Einwohner in 2016. Dort befindet sich die seit Jahren kritisierte Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Das marode Flüchtlingsheim soll nun schrittweise geschlossen werden. Damit dürfte der Kiez in der Rangliste absacken. Dagegen dürfte sich die Gegend um den Bucher Forst (Platz 2) ganz oben halten. Dort zogen neue Wohnquartiere im Grünen in den vergangenen Jahren junge Familien an.
Wo Kita- und Spielplätze knapp sind
Mehr Babys stellen Berlin auch vor größere Herausforderungen. So wird es für viele Eltern immer schwieriger, einen Kitaplatz zu bekommen. Wie das Streudiagramm zeigt, gibt es in einigen Berliner Kiezen deutlich mehr zu betreuende Kleinkinder als angebotene Kitaplätze. Besonders problematisch ist das rund um Kollwitz- und Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg und der Rüdigerstraße in Lichtenberg. In der Gegend um Böhlener Straße in Hellersdorf, Hakenfelde Nord in Spandau und der Eldenaer Straße in Prenzlauer Berg haben Eltern zumindest theoretisch eine größere Chance, ihr Kind unterzubringen.
Auch bei der Versorgung mit Spielplätzen hinkt die Stadt hinterher. Per Gesetz müssen jedem Berliner ein Quadratmeter Spielplatzfläche zur Verfügung stehen. In vielen Kiezen wird dieser Wert aber weit unterschritten, wie das Streudiagramm zeigt. Und wieder ist es dabei am Kollwitzplatz besonders eng. Auch in den kinderreichen Gegenden der Victoriastadt (Lichtenberg) und im Stralauer Kiez in Friedrichshain gibt es Nachholbedarf.
Mehr Geld für Kitaausbau, aber kaum Erzieher
Die Probleme sind der Politik bekannt. Der neue Senat will im kommenden Jahr 20 Millionen Euro in den Kitaausbau investieren und bürokratische Hürden abbauen. In den Bezirken herrscht dennoch Unsicherheit. „Ob die neuen Mittel genügen, das müssen wir sehen“, sagt Monika Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg. Bis 2018 sollen die Kitaplatzgebühren in Berlin komplett wegfallen. Geld, das an anderer Stelle fehlen könnte. Besonders mangelt es an Personal und ausgebildeten Erziehern. „Noch haben wir mehr Kitaplätze als geboren werden“, sagt Herrmann. „Aber es wird langsam eng.“