Der Fall Anis Amri

Wie nah die Behörden dem Attentäter vom Breitscheidplatz waren

Monatelang war Anis Amri im Visier der deutschen Sicherheitsbehörden. Ausgerechnet als er den Anschlag plante, hatten sie Amri aus dem Blick verloren. Eine Chronik des Behördenversagens.

Erste Registrierung in Deutschland
06.07.15
LKA Berlin startet Observation
21.04.16
Anschlag
19.12.16
Anis Amri2011Juli 20152016Juli 20162017nah dranweit entfernt
Nähe der Sicherheitsbehörden

Chronik der Ereignisse bis zum Anschlag

Wichtigste Ereignisse44 Einträge
Alle Ereignisse74 Einträge
Einreise in Italien und Haft
4. April 2011
2086 Tage davor
Anis Amri reist als Flüchtling von Tunesien über Lampedusa nach Italien ein.
Oktober 2011
bis Mai 2015
1906 Tage davor
Nachdem er in Catania (Sizilien) eine Flüchtlingsunterkunft in Brand gesteckt hat, sitzt Amri in Italien eine Haftstrafe ab - wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und Bedrohung.
Registrierung in Deutschland
Juli 2015
537 Tage davor
Der Tunesier reist illegal nach Deutschland ein.
6. Juli 2015
532 Tage davor
Polizei Freiburg
In Freiburg wird Amri unter dem falschen Namen Anis Amir erfasst. Seine wahre Identität kennen die Behörden nicht. Später wird sich Amri in mehreren deutschen Städten unter mehr als einem Dutzend Falsch-Identitäten registrieren lassen. Die Behörden erkennen erst Monate später, dass es sich um ein- und dieselbe Person handelt.
Anträge und Dokumente führen Amri mit zahlreichen falschen Namen (Video: Berliner Morgenpost)
Behördenversagen
Chaos bei Amris Registrierung: Amri hätte bereits direkt nach seiner Ankunft in Deutschland abgeschoben werden müssen.
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Denn in Italien hatten die Behörden im „Schengener Informationssystem“ notiert, dass ihm „die Einreise in das Schengener Gebiet oder der Aufenthalt dort zu verweigern ist“. Er registriert sich aber immer wieder unter falschen Namen. Und seine Fingerabdrücke können die deutschen Behörden in der Datenbank Eurodac nicht finden – denn die Italiener haben sie dort nicht abgespeichert. Auch in Deutschland speichern die Ämter die Fingerabdrücke nicht elektronisch ab und haben keine Möglichkeit zum Echtzeit-Abgleich.
27. Oktober 2015
419 Tage davor
Polizei Kleve
Die Sicherheitsbehörden werden erstmals auf Amris islamistische Aktivitäten aufmerksam: Ein Zimmernachbar seines Flüchtlingsheims meldet der Polizei Kleve (NRW), dass er sich auf einem Handy IS-Videos ansieht.
Bei IS-Prediger Abu Walaa in NRW
November 2015
bis April 2016
414 Tage davor
Anis Amri verkehrt in der Dschihadistischen-Gruppe um den Prediger Abu Walaa in Dortmund, Duisburg (NRW) und Hildesheim (Niedersachsen).
islamistische Aktivität
19. November 2015
8. April 2016
396 Tage davor
LKA NRW
Ein V-Mann aus der Abu-Walaa-Zelle berichtet dem Landeskriminalamt (LKA) NRW mehrfach über Anschlagsabsichten Amris. Der Staat ist daher gut über Amris Gefährlichkeit informiert. Der V-Mann (geführt unter VP01) soll aber auch Mitglieder der Zelle zu Anschlägen animiert haben, heißt es später.
Ali Aydin, Strafverteidiger eines mutmaßlichen Mitglieds der Abu-Walaa-Zelle (Video: Berliner Morgenpost)
Behördenversagen
Ein V-Mann als Anstifter? Der Informant in Diensten des Staates lief womöglich aus dem Ruder.
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Der vom LKA NRW eingesetzte V-Mann lieferte zwar wertvolle Informationen über Anis Amri und die sogenannte Abu-Walaa-Zelle. Er stachelte deren Mitglieder aber auch zu Anschlägen an. Das berichten zumindest Anhänger der Abu-Walaa-Zelle und mehrere Rechtsanwälte. Laut einem Bericht des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes soll die „Vertrauensperson 01“ sogar nach Dschihadisten für einen Anschlag mit einem Lkw gesucht haben.
3. Dezember 2015
26. Mai 2016
382 Tage davor
LKA NRW
Das LKA NRW überwacht Amris Telekommunikation im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Bundesanwaltschaft gegen Mitglieder der Abu-Walaa-Gruppe. Amri ist in diesem Verfahren kein Beschuldigter, sondern „Nachrichtenmittler“.
14. Dezember 2015
371 Tage davor
Ein neues Alarmsignal: Amri recherchiert im Internet nach chemischen Formeln zur Herstellung von Sprengstoff. Die Behörden erfahren davon durch die laufende Telekommunikationsüberwachung (TKÜ).
islamistische Aktivität
23. Dezember 2015
362 Tage davor
BKA
Das BKA hat nach einer Anfrage an Italien erste Hinweise auf die wahre Identität Anis Amris, die sich am 11. Januar 2016 bestätigen.
24. Dezember 2015
361 Tage davor
Anis Amri besucht in Hildesheim ein von Dschihadisten organisiertes dreitätiges „Islamseminar“. Dabei trifft er den mutmaßlichen IS-Prediger Abu Walaa zu einer 30-minütigen „Privataudienz“. Laut einem Vermerk des LKA NRW erhält er dabei womöglich den Auftrag für einen Anschlag.
IS-Prediger Abu Walaa wurde lange "der Mann ohne Gesicht“ genannt. In Videos zeigte er sich immer von hinten (Foto: Twitter)
islamistische Aktivität
26. Januar 2016
328 Tage davor
LKA Berlin
Im LKA Berlin geht ein „Behördenzeugnis“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz ein. Darin werden die Erkenntnisse des V-Manns des LKA NRW über mögliche Anschlagsplanungen Amris zusammengefasst. Der Sicherheitsapparat ist voll angelaufen. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft sieht aber zunächst keine Handhabe zur Einleitung eines Strafverfahrens.
2. Februar 2016
321 Tage davor
Amris Anschlagsbereitschaft verfestigt sich offenbar: Er chattet mit mutmaßlichen IS-Kadern in Libyen und erklärt sich verklausuliert zu einem Selbstmordattentat bereit.
islamistische Aktivität
4. Februar 2016
319 Tage davor
GTAZ
Der Fall Amri steht erstmals auf der Tagesordnung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ). Insgesamt wird sich das oberste Gremium zur Koordinierung der deutschen Sicherheitsbehörden sieben Mal mit dem Fall Amri befassen. Tenor der Einschätzungen: Ein ernst zu nehmender Fall, aber keine akute Anschlagsgefahr.
17. Februar 2016
306 Tage davor
GTAZ
Das LKA NRW stuft Amri als Gefährder ein und sagt in der zweiten Sitzung des GTAZ zu, Maßnahmen für eine Abschiebung zu prüfen.
Islamistenszene in Berlin
18. Februar 2016
305 Tage davor
Polizei Berlin
Amri reist von Dortmund nach Berlin. Der Berliner Polizei fehlt das Personal, um Amri nach seiner Ankunft am Zentralen Omnibusbahnhof zu observieren. Bei einer Kontrolle nehmen Beamte Amri vorübergehend fest und beschlagnahmen sein gestohlenes Handy.
Amri posiert mit einer Waffe auf einem seiner Handyfotos (Foto: Polizei Berlin)
Behördenversagen
Keine Handy-Auswertung: LKA NRW und das LKA Berlin übersehen ein Foto, auf dem Amri mit einer Waffe posiert.
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Das LKA NRW und das LKA Berlin versäumen es, nach der Kontrolle am Busbahnhof, Amris beschlagnahmtes Handy gründlich auszuwerten. Daher entgeht den Behörden, dass der gewaltbereite Gefährder auf einem im Handy gespeicherten Foto mit einer Waffe posiert. Die Behörden hätten den späteren Terroristen deswegen womöglich wegen illegalen Waffenbesitzes belangen können. Ebenfalls gespeichert: Chats mit IS-Kadern, in denen Amri von einem Selbstmordanschlag spricht.
18. Februar 2016
305 Tage davor
Er pendelt weiter zwischen NRW und Berlin, ist nun aber vorrangig in der Hauptstadt und wohnt bei Bekannten in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg und in der Großebeerenstraße in Kreuzberg. Sein wichtigster Anlaufpunkt wird die Fussilet-Moschee in Moabit.
islamistische Aktivität
19. Februar 2016
bis Mitte März
304 Tage davor
Polizei Berlin
Der Staat nimmt Amri noch stärker ins Visier: Die Berliner Polizei observiert ihn bis Mitte März zunächst im Rahmen der Gefahrenabwehr. Hinweise auf konkrete Anschlagsplanungen ergeben sich nicht. Gegenüber der Fussilet-Moschee installiert die Polizei nach eigener Darstellung eine Kamera, um Amris Besuche in dem Dschihadisten-Treff beobachten zu können.
Überwachungsaufnahmen vom Eingang der Fussilet Moschee (Foto: Polizei Berlin)
Behördenversagen
Kein Durchgreifen gegen die IS-Moschee: Amris Besuche werden zwar videoüberwacht, aber nicht regelmäßig ausgewertet und bleiben ohne Konsequenzen.
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Amris wichtigster Stützpunkt in Berlin wird die Fussilet-Moschee in Moabit. Die Gebetssttätte gilt bereits damals als Dschihadisten-Treff und wichtigster Anlaufpunkt für IS-Anhänger. Der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) lässt den Radikalen-Treff trotzdem unbehelligt. Sicherheitsexperten aus seinem eigenen Haus fordern zwar längst, den Moscheeverein zu verbieten. Doch der zuständige Jurist der Innenverwaltung ist dauerkrank. Zudem werden die Aufnahmen der installierten Überwachungskamera nicht regelmäßig ausgewertet.
10. März 2016
284 Tage davor
LKA Berlin
Die Zuständigkeit für Amri als Gefährder wechselt vom LKA NRW zum LKA Berlin.
23. März 2016
271 Tage davor
Generalstaatsanwaltschaft Berlin
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin leitet ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Anis Amri ein. Der Vorwurf: Versuchte Beteiligung an einem Mord (Sprengstoffanschlag). Grundlage für den Verdacht sind die Erkenntnisse des V-Mannes des LKA NRW.
5. April 2016
258 Tage davor
LKA Berlin
Das LKA Berlin startet im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen die Überwachung von Amris Telekommunikation (TKÜ).
21. April 2016
bis 15. Juni 2016
242 Tage davor
LKA Berlin
Das LKA Berlin observiert Amri im Rahmen des Ermittlungsverfahrens der Berliner Generalstaatanwaltschaft. Die Zeiten der Observation richten sich nicht nach sachlichen Erfordernissen sondern nach dem Dienstplan der Beamten: Ab dem späten Abend und am Wochenende bleibt Amri fast immer unbeobachtet. Nach Darstellung der Berliner Polizei ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Neben seinen Besuchen der Fussilet-Moschee verfestigen sich nach und nach auch seine Kontakte ins Drogen-Milieu.
Berliner Sonderermittler Bruno Jost zu Versäumnissen bei der Überwachung (Video: Berliner Morgenpost)
6. Mai 2016
227 Tage davor
LKA Berlin
Das Berliner LKA stuft Amri als Gefährder aus, weil er in Oberhausen, NRW gemeldet ist. Obwohl er sich faktisch weiter vor allem in Berlin aufhält, übernimmt wenig später wieder das LKA NRW die Zuständigkeit für Amri als Gefährder. So wird es bis zum Anschlag bleiben.
14. Mai 2016
219 Tage davor
Amri hält weiter Kontakt ins Salafisten-Milieu, taucht nun aber immer tiefer in die Drogenszene ein. Er dealt im Kleinen Tiergarten und an Party-Locations im Umfeld der Warschauer Brücke, kommt bei Dealerfreunden in der Tauroggener Straße in Nord-Charlottenburg unter.
Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt zur Interpretation von Amris Verhalten / Kommentar Sonderermittler Bruno Jost dazu (Video: Berliner Morgenpost)
Amri als Drogendealer
30. Mai 2016
203 Tage davor
BAMF
Das BAMF lehnt Amris Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab. Die Ablehnung des Asylantrags wird am 11. Juni rechtskräftig. Amri könnte nun abgeschoben werden. Doch Tunesien verlangt für die Ausstellung von Ersatzpapieren Abdrücke der gesamten Handflächen.
Behördenversagen
Schlamperei verhindert Amris Abschiebung: Dafür notwendige Abdrücke der Handflächen hat zwar die Polizei, die Ausländerbehörde weiß aber nichts davon.
mehr
Auch nach nach der Ablehnung seines Asylantrags kann Amri nicht abgeschoben werden. Denn Amri hat keine gültigen Personaldokumente und Tunesien verlangt für die Ausstellung von Ersatzpapieren Abdrücke der gesamten Handflächen. Die zuständige Ausländerbehörde geht davon aus, dass diese nirgends vorliegen. Tatsächlich schlummern Abdrücke von Amris Handflächen bereits seit der ersten Registrierung im Juli 2016 in einer Datenbank der deutschen Polizeibehörden. Offenbar kommt aber kein Beamter auf die Idee, die Dateien der Ausländerbehörde zur Verfügung zu stellen.
15. Juni 2016
187 Tage davor
LKA Berlin
Das LKA Berlin beendet eigenmächtig die Observation - offenbar aus Personalnot. Im GTAZ lassen die Hauptstadt-Beamten die anderen Sicherheitsbehörden darüber im Unklaren. Die Staatsanwaltschaft wird gar nicht informiert.
Behördenversagen
Gefährder Amri ist nun unbeobachtet: Damit vergeben die Behören auch die Chance, ihn bei Drogengeschäften zu ertappen und zu verhaften.
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Trotz Amris anhaltender Kontakte in die IS-Szene stellt die Berliner Polizei die Observation eigenmächtig ein. Ein Gericht hatte die weitere Observation genehmigt. Doch die Berliner Polizei informiert über das Ende der Maßnahme weder in der gebotenen Klarheit die anderen Sicherheitsbehörden noch die Berliner Generalstaatsanwaltschaft. Der immer noch als Gefährder eingestufte Amri kann sich ab jetzt unbeobachtet in der Stadt bewegen. Auch die Chance, ihn bei seinen Drogengeschäften auf frischer Tat ertappen und in Untersuchungshaft bekommen zu können, verstreicht. Nach dem Anschlag versucht die Polizei zunächst, die vorzeitige Beendigung der Observation zu verheimlichen.
11. Juli 2016
161 Tage davor
Amri taucht offenbar immer mehr in die Dealer-Szene ab. Im Rahmen von Revierstreitigkeiten ist er an einer Prügelei in einer Shisha-Bar in der Hertastraße in Neukölln beteiligt. Die Polizei erfährt davon erst später durch abgehörte Telefonate. Das Ermittlungsverfahren versandet. Die Staatsanwaltschaft sieht wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen keinen dringenden Tatverdacht.
30. Juli 2016
und 1. August 2016
142 Tage davor
Amri verlässt Berlin mit einem Flixbus und will offenbar nach Italien ausreisen und von dort womöglich weiter nach Tunesien.
30. Juli 2016
und 1. August 2016
142 Tage davor
Bundespolizei
Das LKA Berlin erfährt durch die Telefonüberwachung von Amris Ausreiseplänen. Beamte der Bundespolizei kontrollieren ihn daraufhin in Konstanz, finden zwei gefälschte Pässe und nehmen ihn fest. Nach nur einer Nacht in Abschiebehaft kommt Amri bereits am 1. August wieder auf freien Fuß.
Matthias Grewe, Direktor Amtsgericht Ravensburg, und Berlins Sonderermittler Bruno Jost zur nur kurzen Haft (Video: Berliner Morgenpost)
Behördenversagen
Amri ist in Haft – und wird freigelassen: Die Chance, ihn wegen Dokumentenfälschung aus dem Verkehr zu ziehen, verstreicht.
mehr
Bei Amris Ausreiseversuch in die Schweiz am 30. Juli findet die Polizei bei der Kontrolle im Flixbus bei Amri zwei gefälschte Pässe. Das wäre ein Grund für einen Haftbefehl wegen Urkundenfälschung. Doch die Polizeien in Berlin und NRW sensibilisieren den zuständigen Staatsanwalt in Ravensburg nicht ausreichend darüber, wie gefährlich Amri ist. Der Jurist behandelt ihn daher ohne besonderen Nachdruck und versäumt es, Untersuchungshaft zu beantragen. Amri kommt wieder auf freien Fuß. Kommentar des Amri-Sonderermittlers des Berliner Senats, Bruno Jost: „Ich glaube, Amri war fassungslos, als er freigelassen wurde.“
18. August 2016
123 Tage davor
Amri reist zurück nach Berlin, wo er weiter in der Drogenszene verkehrt. Zwei Tage später ist er aber auch erstmals wieder in der Fussilet-Moschee.
19. August 2016
122 Tage davor
GSta Berlin / Polizei
Für den ursprünglichen Tatverdacht einer Anschlagsvorbereitung ergeben die Ermittlungen praktisch keine Anhaltspunkte. Die Behörden halten Amri aber weitehrin für gefährlich. Deshalb beauftragt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Polizei, nun gezielt wegen Amris Drogengeschäften zu ermitteln. Das Ziel: Ein Haftbefehl.
Behördenversagen
Die Polizei schaut bei Amris Drogenhandel weg: Die Chance, Amri wegen des mutmaßlich gewerbsmäßigen Handels hinter Gitter zu bringen, blieb ungenutzt.
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Die Polizei lässt die Ermittlungen wegen Amris Drogengeschäften schleifen. Erst am 20. Oktober fertigt der zuständige Beamte eine Anzeige. Die Observationskräfte werden nicht ausreichend informiert. Die Islamismus-Experten des LKA kooperierten auch nicht in ausreichender Weise mit den hauseigenen Drogenfahndern. Nach dem Anschlag versucht ein Beamter mutmaßlich zu verschleiern, dass ein aussagekräftiger Vermerk über Amris Drogengeschäfte nicht der Staatsanwaltschaft zugeleitet wurde. Die Staatsanwaltschaft hat deswegen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das noch nicht abgeschlossen ist.
21. September 2016
89 Tage davor
LKA Berlin
Der Staat verliert Amri aus dem Fokus: Nach der Observation beendet das LKA Berlin nun auch die Überwachung von Amris Telekommunikation. Die Maßnahme hat nach Darstellung der Berliner Polizei keine konkreten Hinweise auf Anschlagsplanungen erbracht. Auch die Kamera vor der Fussilet-Moschee wird nicht routinemäßig ausgewertet, obwohl Amri dort immer wieder ein- und ausgeht.
Behördenversagen
Einstellung sämtlicher Überwachungsmaßnahmen: Für die Berliner Polizei ist Amri ein Drogendealer, kein Terrorist. Sie ignoriert auch Rückfragen aus NRW.
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Mit der Beendigung der Überwachung von Amris Telekommunikation ist Amri nun „außer Kontrolle“ der Behörden. So beschreibt es ein Ermittler des LKA NRW in einem Vermerk. Nachträgliche Begründung der Polizei für die Beendigung aller Maßnahmen: Der Anschlagsverdacht habe sich nicht erhärtet. Und: Amri verhalte sich wegen seines Drogenhandels nicht wie ein „typischer“ islamistischer Terrorist. Dass auch die Attentäter von Paris und Nizza aus dem Kleinkriminellen-Milieu kamen, ist den Terrorismus-Experten offenbar entgangen. Die Berliner Polizei ignoriert nun auch Rückfragen vom LKA NRW, wo Amri sich aufhalte. Auf einer E-Mail an die Hauptstadt-Polizei vermerkt der Kollege aus NRW: „Rückmeldung nicht erfolgt!“
Oktober 2016
79 Tage davor
LKA Berlin / GTAZ
Es gibt mehrere Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes: Amri verkehre mit IS-Sympathisanten und plane „ein Projekt“. Das Berliner LKA unternimmt nichts. Im GTAZ heißt es, die Hinweise enthielten keine neuen Informationen.
Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt: „Projekt“ kann alles mögliche bedeuten (Video: Berliner Morgenpost)
5. Oktober 2016
75 Tage davor
Amri schreibt einem mutmaßlichen IS-Anhänger in Libyen: „Ich möchte zu euch auswandern. Sagt mir, was ich tun soll.“ Die Sicherheitsbehörden erfahren davon erst nach dem Anschlag, weil sämtliche Maßnahmen eingestellt wurden.
islamistische Aktivität
20. Oktober 2016
60 Tage davor
LKA Berlin
Das LKA Berlin fertigt erst jetzt eine Strafanzeige gegen Amri wegen des Verdachts des Drogenhandels. Intensive Ermittlungen werden nicht aufgenommen - obwohl die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Polizei bereits Ende August dazu aufgefordert hatte.
26. Oktober 2016
54 Tage davor
LKA Berlin
Das LKA NRW fragt bei den Berliner Kollegen nach Amris Aufenthaltsort. Amri ist immer noch als Gefährder eingestuft. Die Berliner haben offenbar trotzdem endgültig das Interesse an ihm verloren. Handschriftlich vermerkt ein NRW-Beamter unter seiner Anfrage „Rückmeldung nicht erfolgt!“.
Vorbereitungen und Anschlag
1. November 2016
48 Tage davor
Amri nimmt an der Kieler Brücke in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs das Video auf, das der IS nach dem Anschlag verbreiten wird.
Szene aus dem Bekennervideo (Video: Berliner Morgenpost)
islamistische Aktivität
1. November 2016
48 Tage davor
LKA Berlin
Eine Beamtin des LKA verfasst einen ausführlichen Vermerk zu Amris Drogengeschäften. Die Erkenntniss hätten womöglich für einen Haftbefehl gereicht. Der Vermerk wird aber nicht der Staatsanwaltschaft zugeleitet.
10. November 2016
39 Tage davor
Amri kommuniziert von nun an mit einem noch unbekannten Mentor des IS. Zu ihm hatte er auch während der Tatausführung Kontakt. Amris IS-Mentor schickt ihm ein dschihadistisches Propaganda-Pamphlet.
islamistische Aktivität
Ab Mitte November
34 Tage davor
Er kundschaftet wiederholt den Breitscheidplatz aus. Außerdem ist Amri ab 28. November fast täglich am Friedrich-Krause-Ufer unterwegs, wo er später den Lkw kapert. Er ändert auch sein Surfverhalten im Internet: Er schaut keine Pornos mehr, ruft ab Dezember fast nur noch dschihadistische Seiten auf.
islamistische Aktivität
19. Dezember 2016
Amri kapert den späteren Todes-Lkw am Friedrich-Krause-Ufer, tötet den Fahrer und fährt in die Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz. Elf weitere Menschen sterben. Es ist der schwerste islamistische Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Ein Bild, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz kurz nach dem Anschlag (Foto: dpa)
Anschlag
19. Dezember 2016
Die Berliner Polizei ist auch nach dem Anschlag überfordert. Sie versäumt es über Stunden, nach dem namentlich zunächst noch unbekannten Terroristen zu fahnden. Unbehelligt und mit Pistole bewaffnet gelingt Amri die Flucht quer durch Westeuropa.
Behördenversagen
Chaos nach dem Anschlag: Die Polizei leitet die Fahndung nach dem Attentäter zu spät ein - da flüchtet Amri längst quer durch Europa.
mehr
Schon 2014 hat die Polizeiführung den Auftrag erteilt, ein Einsatzkonzept für den Fall eines Anschlag zu erstellen. Doch das Papier ist nicht fertig – und die fertigen Teile sind vielen Beamten nicht bekannt. Ein interner Polizeibericht stellt später fest, dass der Einsatz in weiten Teilen chaotisch verläuft. Das folgenschwerste Versäumnis: Die Polizei leitet die Fahndung nach dem flüchtigen Fahrer des Todes-Lkw erst nach etlichen Stunden ein. Anis Amri kann daher mit einer Pistole bewaffnet völlig unbehelligt durch die Stadt spazieren – und seine Flucht quer durch Deutschland, Belgien und Frankreich nach Italien antreten.
23. Dezember 2016
4 Tage danach
Amri von italienischen Polzisten in der Nähe von Mailand erschossen.
Anis Amir liegt erschossen am Boden nahe einer Metrostation bei Mailand (Foto: dpa)
23. Dezember 2016
4 Tage danach
Der IS verbreitet auf seinem Propagandakanal Amris Bekennervideo, dass der Tunesier am 1. November in Berlin aufgenommen hatte.

Die Akte Anis Amri

Er beschäftigte rund 50 Behörden, wurde observiert und abgehört und stand im Gremium zur Koordinierung der deutschen Sicherheitsbehörden sieben Mal auf der Tagesordnung. Dennoch konnte Anis Amri am 19. Dezember 2016 den schwersten islamistischen Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik verüben. Nach dem Anschlag wurden immer neue Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bekannt.

Ein Reporterteam der Berliner Morgenpost und des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hat mehrere zehntausend Seiten Akten gelesen, mit Sicherheitsexperten und Personen aus dem Umfeld des Attentäters gesprochen und konnte das Staatsversagen so rekonstruieren. Diese Chronik des Behördenversagens ist eines der Ergebnisse der Recherchen. Sie gibt einen Überblick über die Ermittlungen, visualisiert, wann die Behörden wie nah an ihm dran waren - und zeigt die zehn folgenschwersten Fehler auf. Die traurige Erkenntnis: Die Behörden hätten Amri abschieben können und ließen mehrere Chancen, ihn hinter Gitter zu bringen, verstreichen.

Lesen Sie weiter
Film-Doku zum Fall Amri
Die TV-Dokumentation von Berliner Morgenpost und RBB deckt Behörden-Pannen auf, die den Begriff des Staatsversagens rechtfertigen.