Ein Berliner SommerFußball-EM 2024

Die Fußball-EM im eigenen Land hat sich in der deutschen Hauptstadt so verdichtet wie nirgendwo sonst. Ein Streifzug durch Berlin, von heiteren Schotten zu schunkelnden Holländern, und von kleinen Feiern zur großen Politik. Das Turniertagebuch von Nelis Heidemann.

Der „Shithole“-Kreislauf

Messegelände/Murphy´s Irish Pub, Sonntag, 14. Juli
Spanien – England 2:1

Rot gewinnt: Die Spanier geben sich bei Fanmarsch siegessicher. Zu Recht, wie sich zeigen sollte.Foto: Nelis Tom Heidemann
Die Engländer am Finalsonntag vor dem Murphy´s Irish Pub in Mitte.Foto: Nelis Tom Heidemann

Das meinten die also mit „Shithole“! Murphy´s Irish Pub in Berlin-Mitte, der Finalsonntag, die Engländer sind da. Sie stehen vor dem Laden auf Tischen, Bänken und der Straße und machen, was englische Fußballfans eben machen – sie trinken Bier und grölen ihre Lieder: „Hey Jude“, „Southgate you´re the one“ und natürlich „Football´s coming home“.

Auf der Straße vor dem Pub liegen unzählige leere Bierflaschen und zerfledderte Plastikbecher, neben den Rufen der Engländer begleitet ein ständiges Klimpern die Geräuschkulisse. An der Straßenecke zur Brücke über die Spree sieht es aus, als ob eine Bombe in einen kleinen E-Scooter-Fuhrpark eingeschlagen hätte, die Roller liegen kreuz und quer übereinander. Auf der anderen Seite der Spree, Ecke Friedrichstraße/Reichstagsufer, liegen feine Scherben auf der Straße, sodass es klirrt und knistert, wenn Autos darüberfahren. Als die Engländer für ihr erstes Spiel dieser Europameisterschaft nach Deutschland kamen, waren sie in Gelsenkirchen zu Gast und bezeichneten die Stadt als „Shithole“, als Drecksloch. Jetzt, zum Finale, erzeugen sie also mitten in Berlin ihr eigenes kleines „Shithole“, so schließt sich der Kreis. Die Spanier dagegen ziehen verhältnismäßig zivilisiert vom Messegelände zum Olympiastadion und machen noch ein letztes Mal La Ola mit von Balkon winkenden Omas. Auch für die Iberer wird sich heute noch ein Kreis schließen, aber dazu später mehr. Die „Shithole“-Geschichte, so viel muss zur Ehrenrettung der Engländer noch gesagt werden, ist auch eine Geschichte der Versöhnung. Im Achtelfinale, als die Three Lions zum zweiten Mal in Gelsenkirchen waren, waren die infrastrukturellen Mängel behoben und am Ende doch noch alle zufrieden. In Berlin sind am Finalsonntag die englischen Flaggen an den Zäunen zur Spree eine nette Dekoration im Regierungsviertel, die vorbeischippernden Touristenschiffe belohnen das mit langgezogenem Schiffshupen, die Gäste an Bord filmen und winken. Für einen Monat brachte ganze Europa Freude und Trubel in die Hauptstadt, da kommt es auf dieses kleine „Shithole“ jetzt auch nicht mehr an. Die Leute feiern halt, das ist doch toll! Es ist das Ende eines Berliner Sommers, der am 14. Juni in einer etwas anderen Gemengelage begann.

... vier Wochen zuvor

Schotten dicht - Röcke hoch

Fanzone am Brandenburger Tor, Freitag, 14. Juni
Deutschland – Schottland 5:1

Die freundliche Tartan Army in Berlin: Cameron (links) und seine Freunde.Foto: Nelis Tom Heidemann

Was würde es also für ein Turnier werden? Nach der Ohnmacht der Europawahl ist der Besuch fröhlich angeheiterter Schotten in Deutschland eine willkommene Ablenkung. Spielort München ist von den Gästen vollständig eingenommen, auch auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor haben sich früh am Eröffnungsspieltag ein paar Dutzend Schotten versammelt.

Und mit ihnen kommt die Leichtigkeit: „Wir wollen einfach Bier trinken und eine gute Zeit haben“, sagt Cameron, ein untersetzter junger Mann, der stolz ein Retrotrikot der schottischen Nationalmannschaft trägt. Aber, in Zeiten wie diesen müssen natürlich auch die großen Fragen besprochen werden. Also: Gehört unter den Schottenrock nun Unterwäsche oder nicht? Reflexartig ziehen Cameron und ein Freund von ihm die Röcke hoch, ihre Unterhosen kommen zum Vorschein. „Ich traue meinen Freunden nicht so sehr, dass ich nichts drunter ziehen würde“, sagt Cameron und bricht in Gelächter aus.

Es kommt anders, als man denkt

Fanzone am Reichstag, Montag, 17. Juni
Rumänien – Ukraine 3:0

Es ist nicht so, wie es scheint: Eine mutmaßlich ukrainische (und tatsächlich rumänische) Flagge verdeckt den feiernden Alin auf seinem Barhocker.Foto: Nelis Tom Heidemann

Wenn es in Berlin eine Konstante gibt, dann vermutlich die, dass Dinge immer anders laufen als geplant. Das gilt auch für die Fußball-EM. Montagnachmittag in Mitte: Malerische Kulisse vor dem Reichstagsgebäude, Hunderte in Flaggen gehüllte ukrainische Fans, der vermeintlich leichte Auftaktgegner Rumänien. Eigentlich standen alle Zutaten bereit für eine dieser märchenhaften Geschichten, die stolzen Ukrainer würden sich nicht unterkriegen lassen und mit einem Auftaktsieg bei der Fußball-EM Stolz über ihr kriegsgeschütteltes Land bringen.

Allein: Der Fußball hält von solch verklärenden Erwartungen genau so wenig wie das Leben in Berlin. Rumänien gewinnt 3:0, und so gehört die Kulisse vor dem Reichstag dann einer Hand voll feiernder Rumänen. Alin, ein junger Mann mit Sonnenbrille, ist einer von ihnen. Er ist auf seinen Barhocker geklettert, hüpft auf und ab und stimmt „Romania, Romania“-Gesänge an. Alin ist aus Hamburg angereist und findet die viel kritisierte Fanzone am Reichstag (CDU-Politiker Jens Spahn: „Es nervt die Leute. Die Fanmeile gefährdet die Arbeitsfähigkeit des Parlaments“) fantastisch, er guckt sich um und sagt: „Deswegen sind wir hergekommen!“ Siegestrunken gibt er das Halbfinale als seine Turnierprognose aus und wird von umstehenden Rumänen deshalb gleich wieder eingefangen („Die Vorrunde zu überstehen wäre schon gut!“). Dennoch verkörpert Alin eine Gemütsverfassung, die man ohne die EM im Regierungsviertel dieser Tage vergeblich suchen würde: Euphorie.

Die EM und ihre Gretchenfrage

Am anderen Ende der U5, Mittwoch, 19. Juni
Deutschland – Ungarn 2:0

Ein grauer Wolkenschleier über Schwarz-Rot-Gold. In den ersten Tagen des Turniers musste sich der deutsche EM-Patriotismus noch entwickeln. Foto: Nelis Tom Heidemann

Die Gretchenfrage eines jeden Fußballturniers in Deutschland schwebt auch 2024 über den ersten Tagen der EM: Wie hältst du es mit dem Patriotismus? Berlin, eine Stadt der krassen Gegensätze: In einer Kneipe werden Flaggen sämtlicher Länder verboten, um Nationalismus ja keine Bühne zu bieten. An einem anderen Ort fährt die AfD Rekordergebnisse ein.

Ausflug in den Berliner Osten, nach Marzahn-Hellersdorf. Bahnhof Hönow, Endstation der Linie U5. Die U-Bahn startet am Hauptbahnhof, von dort können Menschen direkt in die Fanzones gehen und die pulsierende EM erleben. Vom anderen Ende der Linie braucht es dann 75 Minuten mit dem ÖPNV zum Finalspielort Olympiastadion in Westend. Hönow ist während der EM in Berlin der Ort, der so unberührt ist vom Glanz der Uefa, wie kaum ein anderer. Im äußersten Wahlkreis an der Grenze zu Brandenburg hat die AfD bei der Europawahl 39 Prozent geholt. Zehn Tage später fällt das hier nicht auf, die Kulisse passt aber schon ins Klischee einer AfD-Hochburg. Eine abgehängte Plattenbausiedlung mit hoch geklappten Bürgersteigen, hier und da hängt eine Deutschlandflagge über dem Balkongeländer. Nur haben die eben während eines Heim-Turniers auch eine andere Bedeutung. In einer der wenigen Kneipen, die sich in Marzahn-Hellersdorf noch halten, wird am Abend des deutschen Vorrundenspiels gegen Ungarn im harten Berliner Dialekt gesprochen und in hoher Frequenz geraucht. Der Ton ist rau, aber die Nationalmannschaft wird – wenn überhaupt – wegen ihres übertriebenen Kurzpassspiels kritisiert. Und nicht etwa wegen der Farben des Auswärtstrikots oder der Haut der Spieler. Deutschland gewinnt 2:0. Eine erfolgreiche Nationalmannschaft schafft das, woran sich Politiker aller gemäßigten Orientierungen seit Jahren die Zähne ausbeißen: Sie lässt die extrem Rechten verstummen. Zumindest für ein paar Wochen.

Gute Freundinnen kann niemand trennen

Stasi-Unterlagen-Archiv, Sonntag, 23. Juni
Schweiz – Deutschland 1:1

„Molli“ (links) und „Paulchen“ trafen sich zum Deutschland-Spiel im Stasi-Unterlagen Archiv.Foto: Nelis Tom Heidemann

Die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Große Gebäude ohne Seele und mit vielen Fenstern, ein riesiger Innenhof. Heute ist dieser Ort ein Museum. Es erfüllt die ehrenhafte Aufgabe, die Menschen an die Gräuel der Zeit zu erinnern, als hier noch das Ministerium für Staatssicherheit operierte. Für gute Laune waren diese Häuser bisher also eher nicht bekannt. Aber jetzt wird hier die EM gezeigt.

Vor den Spielen erzählen Menschen auf Podiumsdiskussionen mit unverschämt guter Laune vom Fußball in der DDR. Am Abend des letzten deutschen Vorrundenspiels sitzen hier Dagmar, genannt „Molli“, und Monika, genannt „Paulchen“, in der ersten Reihe. Beide haben sich vor über 50 Jahren in der Frauenmannschaft des 1. FC Union kennengelernt. Jetzt treffen sie sich immer mal wieder zu besonderen Anlässen mit ihren Teamkameradinnen von damals wieder, eine von ihnen ist heute Teil der Podiumsdiskussion. Bei Anekdoten aus der alten Zeit jauchzen sie immer wieder auf. „Freiwillig wäre ich nie hierhergekommen“, sagt „Molli“ über die Stasi-Zentrale, „ich bin es nur wegen der anderen!“ Sie hat ständig ein Lächeln auf dem Gesicht und sprüht vor Energie, wenn sie Geschichten von früher erzählt. Nur beim Stasi-Thema wird sie kurz ruhiger. „Ich war schon damals nie an der Grenze und wollte hinterher auch nicht meine Akte lesen“, sagt „Molli“. Während des deutschen Spiels fiebert sie mit jeder Körperfaser mit und überrascht mit beeindruckend präzisen Analysen. Nach dem Spiel ist ihr der Weg zurück nach Hause zu weit, sie wohnt außerhalb. „Molli“ übernachtet heute bei einer ehemaligen Mitspielerin.

Europäische Fusion

Savignyplatz, Montag, 24. Juni
Kroatien – Italien 1:1

Europäische Fusion am Savignyplatz: italienischer Espresso, deutsches Bier, holländische Trikots.Foto: Nelis Tom Heidemann

Eine Europameisterschaft bietet immer auch Möglichkeiten zur Begegnung verschiedener Kulturen, in Berlin gilt das erst recht. Gutes, altes West-Berlin: Am Savignyplatz reihen sich verschiedene Restaurants aneinander.

Ein italienisches Lokal ist heute Abend von einer großen Gruppe Holländer gekapert. „Die sind alle voll besoffen“, murmelt ein augenrollender Kellner, noch deutet hier nichts auf einen großen Abend der „Squadra Azzura“ hin. Doch die orangenen Trunkenbolde verschwinden rechtzeitig vor dem Spiel. Und als dann die italienische Nationalhymne über die riesigen Fernseher erklingt, ruft ein anderer Kellner mit lichtem Haar überraschend euphorisch „Forza Italia!“ Heute gegen Kroatien gibt es ein 1:1, prognostiziert er, das würde zum Weiterkommen reichen. Er krächzt während des Spiels immer wieder sein „Forza Italia!“ aus allen Lagen, und tatsächlich: In der Nachspielzeit erzielen die Italiener das 1:1. Aber selbst im ausdigitalisierten Jahr 2024 kommen die Funksignale des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bei den Nachbarn in unterschiedlicher Geschwindigkeit an. Heute immerhin in der richtigen Reihenfolge: Zuerst jubeln die Gäste des Italieners, dann an der Ecke des Platzes die eines Mexikaners und schließlich auf der anderen Seite die eines Asiaten. Es schwappt eine La-Ola-Welle des Jubels rund um den Platz. Neben dem Asiaten liegt eine überfüllte Tapas-Bar, in der solch emotionale Ausbrüche an diesem Tag nicht gebraucht werden. Die Spanier konnten angesichts ihres Sieges im Parallelspiel schon in der Halbzeitpause „Viva España“ singen.

Hup Holland Hup

Olympische Straße, Dienstag, 25. Juni
Niederlande – Österreich 2:3

Die Holländer feiern bei ihrem Fanmarsch zum Olympiastadion mit Doppeldeckerbussen.Foto: Nelis Tom Heidemann

Es gibt in Berlin viele tolle Sachen mit Doppeldeckerbussen zu erleben. Auf der Linie 100 zum Beispiel sind manchmal sogar im Oberdeck die Plätze ganz vorn frei, dann erhält man mit einem Einzelticket für 2,20 € eine Sightseeingtour mit wunderbarer Aussicht.

Und dann kommen die Holländer. Sie lassen zwar die Linie 100 unberührt, haben aber ihre eigenen Doppeldeckerbusse mitgebracht. Wer nun schon einmal im Olympiastadion war, weiß, dass am Stadion ankommen und ins Stadion hineinkommen zwei grundverschiedene Herausforderungen sind. Die Holländer machen aus dieser Not eine Tugend und funktionierten ihre Dachgeschosse auf den Bussen zu DJ-Bühnen um, von denen aus sie ihre wunderbaren Lieder zum Schunkeln und Springen in die orangene Menge schicken. Das gefällt sogar den Gegnern aus Österreich: Eine Gruppe Burschen in rot-weiß-roten Trikots filmt das Gesinge mit, ein anderer stimmt in ein Lied der Holländer zu Max Verstappen ein. Das kann sein Kumpel natürlich nicht gelten lassen, er beginnt als Konter ein Lied über Marcel Hirscher zu singen. Aber er findet nicht so richtig eine passende Melodie, und obendrein startet der Skirennfahrer nach einem Verbandswechsel ja ab nächstem Winter auch noch für die Niederlande. Berlin ist an diesem Tag auf der Straße in oranje getaucht.

Die Khinkali-Sensation

Berliner Berg Brauerei, Mittwoch, 26. Juni
Georgien – Portugal 2:0

Die Georgier reiben sich die Hände: In Neukölln werden Khinkali gereicht, eine Spezialität aus der Heimat.Foto: Nelis Tom Heidemann

Hunderte Georgier sitzen zusammen, lächeln entspannt, essen und trinken gemeinsam. Ein lauer Sommerabend in Tiflis, der aber leider nur eine Illusion ist. Also, die Georgier sind schon da und sitzen beseelt zusammen; allerdings auf einem Hinterhof in Neukölln.

Aber das macht ja nichts, Berlin hat sich herausgeputzt dieser Tage. Im Biergarten der Berliner Berg Brauerei findet ein Public Viewing namens „Soulfood EM“ statt. An jedem Tag gibt es Essen aus den Ländern, die gerade spielen. Eine einfache wie außergewöhnliche Idee, die vor allem von den Georgiern gut angenommen wird. Zu den Spielen des EM-Neulings werden Khinkali gereicht, mit Käse oder Fleisch gefüllte Teigtaschen. „Da wo ich herkomme, essen wir die Dinger alle zwei oder drei Tage. Das Gericht kommt aus den Bergen, es ist sehr einfach“, sagt George, ein junger Mann mit Glatze, Rauschebart und georgischen Wurzeln. Er führt in Kreuzberg eine georgische Weinbar. Die simplen Khinkali passen zu den Georgiern, die nicht wie die Schotten schon Stunden vor Anpfiff ihre Lieder grölen, sondern sich einfach ganz gesetzt zum Fußball gucken treffen. Mit der Nationalhymne aber erhöht sich die Betriebstemperatur, und dann schießen sie halt an diesem Abend nach nicht mal zwei Minuten das 1:0 gegen Portugal. Das Drama georgischer Emotionen nimmt seinen Lauf. Wenn auch nur der Funke eines Konters zu entstehen scheint, springen die Georgier kreischend auf und haben wabbelige Knie. Die Allerweltsparade eines zentral getretenen Freistoßes von Cristiano Ronaldo bejubeln George und all seine Freunde im Biergarten wie ein Tor. Der Rest dieses Abends ist Fußballgeschichte in Neukölln, im Stadion in Gelsenkirchen - und sicher auch in Tiflis.

Schnaps aufs Haus

Schwarze Heidi Fondue Hütte, Sonnabend, 29. Juni
Schweiz – Italien 2:0

Auf der Terrasse der Schwarzen Heidi wird mit Alphörnern echte Schweizer Atmosphäre hergestellt.Foto: Nelis Tom Heidemann

An jeder Ecke in Berlin gibt es Kneipen und Restaurants, die sich darüber definieren, sogenannten „Exilianern“, Zugezogenen von diesen und jenen Orten, Momente der Heimat zu bieten. Für die Rheinländer gibt es die Ständige Vertretung im Regierungsviertel, für die Bayern das Weisse Rössl in Lichterfelde, und wer im Schwabylon in Neukölln einkehrt, ist offensichtlich.

Die Schweizer gehen in Berlin in die Schwarze Heidi, auch Urs Fischer war in seiner Zeit als Trainer des 1. FC Union öfter hier. Eine Fonduehütte, die aussieht, als würde sie mitten in den Alpen stehen - im hippen Friedrichshain aber hinter dem Techno-Klub Wilde Renate zu Hause ist. Inhaberin Jennifer Mulinde-Schmid begrüßt ihre Gäste persönlich, viele davon mit Umarmung. „Es gibt viele Schweizer in Berlin“, sagt sie, „und ich kenne fast alle. Aber manchmal lerne auch ich noch neue kennen!“ Für die EM zieht sie auf ihrer Terrasse alle Register, im Fernsehen läuft SRF und vor dem Spiel musiziert ein Alphornquartett in Tracht. Viele der Berliner Schweizer sind heute im Stadion, das Achtelfinale gegen Italien steigt im Olympiastadion. „Ich habe auch ganz viele Karten angeboten gekriegt. Aber ich bin ja keine Expertin, was soll ich da? Und außerdem habe ich ja hier den Laden“, sagt Mulinde-Schmid. Die Terrasse ist trotz des Besuchs aus der Heimat gut gefüllt. Als bei der Schweizer Nationalhymne jedoch nur vereinzelt Gäste aufstehen, ruft die Inhaberin von hinten: „Singt doch mit!“ Die Resonanz bleibt verhalten, aber Mulinde-Schmid weiß schon, wie sie für Stimmung sorgen kann. Kurz nach dem Anpfiff („Los geht´s! Hopp Schwiiz!“) jubeln die Gäste über ihre Ankündigung: „Für jedes Tor für die Schweiz gibt´s einen Schnaps!“ Der Röteli schmeckt an diesem Abend doppelt, die Eidgenossen gewinnen 2:0.

Stammtisch oder Regierung?

Centre Français de Berlin, Montag, 1. Juli
Frankreich – Belgien 1:0

Zum Haare raufen: Die Rechtsradikalen gewannen den ersten Wahlgang in Frankreich. Pierre, ein stilvoller Franzose im grauen Karojackett, kämpft beim Public Viewing fürs Macron-Lager.Foto: Nelis Tom Heidemann

So ganz geht es auch bei diesem Turnier nicht ohne Politik. Die EM ist zwar eine große Party des Eskapismus, aber all die Krisen unserer Zeit sind im Hintergrund trotzdem noch präsent. Nirgends wird das so deutlich wie beim EM-Favoriten Frankreich.

Das Centre Français de Berlin ist ein deutsch-französisches Kulturzentrum, während der EM gibt es dort Public Viewing. Es ist der Tag des französischen Achtelfinales gegen Belgien. Gestern fand in Frankreich der erste Wahlgang der Parlamentswahl statt, heute wird in Wedding schon wieder Wahlkampf gemacht. Die mehr als 20.000 in Berlin lebenden Franzosen können normal an der Wahl teilnehmen. Schon auf der Straße vor dem Kulturzentrum verteilen Leute des Macron-Lagers „Ensemble“ Flyer, im Innenhof kommen noch Wahlkämpfer des linken Bündnisses „Nouveau Front Populaire“ dazu. Beide Lager waren im ersten Wahlgang klar dem rechtsnationalen „Rassemblement National“ von Marine Le Pen unterlegen, der Schock sitzt den Europa-Freunden im Berliner Kulturzentrum deshalb auch beim Fußball noch ein wenig in den Knochen. Für Macrons „Ensemble“ ist Frédéric Petit hier, ein Abgeordneter der französischen Nationalversammlung für die im Ausland lebenden Franzosen. „Es ist kein französisches, sondern ein europäisches Problem“, sagt Petit über das starke Abschneiden der Rechtsnationalen. Wäre dann nicht so eine Europameisterschaft ein guter Anlass, um etwas dagegen zu unternehmen? „Es gibt Fußball, und es gibt Politik“, sagt Petit, der nicht sonderlich viel davon hält, beides zu vermischen. Die EM sei ein gesellschaftliches Phänomen, das viele Emotionen auslöse, aber: „Wir können die großen Probleme unserer Zeit nicht mit Emotionen lösen. Wir können eine Regierung nicht wie einen Stammtisch organisieren.“ Der Aufruf der Nationalspieler gegen den „Rassemblement National“ hat de facto wenig genützt, das alte Lied vom Sport, der die Politik beeinflussen kann, ist in Frankreich eines der schiefen Töne. Immerhin – das Ergebnis des Fußballspiels passt heute. Und so gibt es am Freitag, zwei Tage vor der entscheidenden Stichwahl, noch einmal mindestens 90 Minuten Eskapismus.

Irgendwie Berlin-Derby

Fanzone am Brandenburger Tor/Kurfürstendamm, Dienstag, 2. Juli
Österreich – Türkei 1:2

Durch Berlin bei dieser EM verbunden: Österreich und die Türkei.Foto: Nelis Tom Heidemann

Österreich gegen Türkei, ein prächtiges EM-Achtelfinale. Aber auch ein Spiel, das sich zum Berlin-Derby hochstilisieren lässt. Beziehungsweise, zu einem der ältesten Konflikte der Hauptstadt: Zugezogene gegen Einheimische.

Die Türkei würde die Fraktion der Einheimischen repräsentieren. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2023 mehr als 116.000 Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft in Berlin, hinzu kommen weitere mit Migrationshintergrund. Berlin gilt als die Stadt mit der größten türkischstämmigen Bevölkerung außerhalb der Türkei. Die Österreicher wären auf der anderen Seite die Zugezogenen. Ihr Quartier im Schlosshotel Grunewald ist für sie in etwa das, was Prenzlauer Berg für die Schwaben ist. Auch in der Alpenrepublik scheinen sie sich aber ganz gut mit der deutschen Hauptstadt auszukennen, schließlich wählten sie den alten Gassenhauer „I am from Austria“ von Rainhard Fendrich als ihre Hymne für diese EM. Darin wird zwar Österreich besungen, bei Bedarf könnte man darin aber auch Klagen über das Leben in Berlin heraushören. „I kenn die Leit´, i kenn die Ratten / Die Dummheit die zum Himmel schreit.“ Oder die Frage: „Von Ruhm und Glanz is wenig über / Sag ma wer ziagt no den Huat vur dia, außer mir?“ Beim Spiel hilft all das Wissen über die lokalen Begebenheiten an diesem Abend freilich nichts. Wie so oft sind die Zugezogenen selbstbewusst und aufmüpfig, am Ende aber behalten dann doch die Einheimischen die Oberhand. Die Türkei zieht ins Viertelfinale ein und versetzt den Kurfürstendamm wieder mal ins Chaos. Fans zünden Silvesterraketen und bengalische Feuer auf den Straßen, Hupkonzerte und Staus bestehen bis tief in die Nacht. Die große Politik ist auch hier irgendwie dabei, rund eine halbe Stunde nach Abpfiff werden beim Autokorso immer mehr Palästinaflaggen gezeigt. Die sind auf den offiziellen Fanmeilen der Stadt aus gutem Grund verboten.

Tusche für Deutschland!

Fanzone am Brandenburger Tor, Freitag, 5. Juli
Spanien – Deutschland 2:1 n.V.

Auch zu EM-Zeiten vor allem Hertha-Fans: Marek, Gabriel und Stevie (v.l.n.r.).Foto: Nelis Tom Heidemann
„Tusche“ für Deutschland! Zumindest, wenn es nach dem Trikotflock von Union-Fan Sky geht.Foto: Nelis Tom Heidemann

Die Fans der beiden größten Berliner Fußballvereine sind leidensfähige (und manche sogar das Leid liebende) Menschen. Von der Euphoriewelle einer EM im eigenen Land lassen aber auch sie sich gern mitreißen, doch der eigene Klub wird dabei selbstverständlich trotzdem gefeiert.

Am Tag des deutschen Viertelfinals gegen Spanien kommen Marek und seine Freunde mit Fanartikeln von Hertha BSC auf die Fanmeile am Brandenburger Tor. Hier singt heute Peter Schilling die deutsche EM-Hymne „Major Tom“, die Menschen lachen und sind in gespannter Erwartung des größten Spiels der deutschen Nationalmannschaft seit langer Zeit. Schon alles irgendwie ganz cool, aber: „Hertha ist trotzdem geiler“, sagt Marek mit dem ureigenen Berliner Selbstbewusstsein. Das fühlt nicht jeder auf der Fanmeile: Ein paar Meter entfernt von der Hertha-Truppe steht der junge Mann Sky mit einem Kumpel. Der trägt den Flock von Toni Kroos auf dem Rücken, Sky hat sich einen anderen großen deutschen Spielmacher auf sein Deutschlandtrikot drucken lassen: Torsten Mattuschka, Legende des 1. FC Union. „Ich bin echt froh, dass jetzt gerade noch EM ist“, sagt Sky, „mir steckt der Druck und der ganze Stress vom letzten Spieltag immer noch ein bisschen in den Knochen.“ Bei Unions dramatischem Bundesliga-Klassenerhalt war er im Stadion. Zu diesem Zeitpunkt weiß Sky noch nicht, dass auch die Nationalmannschaft heute einen dramatischen Abend erleben wird. Aber gerade spricht Sky, als würde er sich aus dem Urlaub von einem Liegestuhl am Pool melden: „Das ist ja alles ganz entspannt hier. Bald werden wir wieder um 5 Uhr morgens aufstehen, um mit Union irgendwohin zu fahren.“

Das Ende der Unschuld

Kantstraße, Sonnabend, 6. Juli
Niederlande – Türkei 2:1

Der Wolfsgruß wird auf dem Fanmarsch der Türkei vor dem Viertelfinale im Olympiastadion vielerorts gezeigt.Foto: Nelis Tom Heidemann

Kein Team dieser Europameisterschaft sorgt in Berlin für solch emotionale Ausbrüche wie das der Türkei. Manch ein Berliner war in der Vorrunde belustigt ob der nächtlichen Autokorsos, andere waren schwer genervt. Aber für alle war es halt eben solch ein übliches Phänomen eines Großturniers. Doch dann änderte sich alles: Der türkische Nationalspieler Merih Demiral zeigte im Achtelfinale gegen Österreich nach seinem zweiten Treffer den Wolfsgruß, das Handzeichen der rechtsextremen Bewegung „Graue Wölfe“.

So markiert dann spätestens der Tag des türkischen Viertelfinals im Olympiastadion das Ende der Unschuld dieser EM-Wochen in Berlin. Beim offiziellen Fanfest der Türkei am Breitscheidplatz hat sich ein Fan als grauer Wolf verkleidet, dem Namensgeber der rechtsextremen Gruppe. Wobei von türkischer Seite an diesem Tag häufiger das Argument zu hören ist, dass der graue Wolf ja gar nicht Identifikationsfigur der Rechtsextremen sei, sondern einfach Ursprung der türkischen Identität. In Deutschland ist der Wolfsgruß allerdings ein klares politisches Symbol. Er wird beim Fanmarsch in Richtung Olympiastadion ständig und überall gezeigt, immer wieder auch zur direkten Provokation gegenüber Außenstehenden. Die Polizei hat davon schnell genug, der Fanmarsch wird am S-Bahnhof Charlottenburg wegen seines politischen Charakters abgebrochen. Dass all das ohne große körperliche Auseinandersetzungen gelingt, ist vielleicht der größte Berliner Sieg dieses Tages.

Berlin ist wieder Berlin

Mauersegler Biergarten, Dienstag, 9. Juli
Spanien – Frankreich 2:1

Am lauen Sommerabend im Mauerpark ist das EM-Halbfinale nur Nebensache.Foto: Nelis Tom Heidemann

In der letzten Turnierwoche ist Berlin allmählich wieder Berlin, das Leben muss ja auch irgendwie weitergehen. Dabei hilft, dass immerhin der Himmel mittlerweile aufgehört hat, das deutsche Ausscheiden zu betrauern. Zur Finalwoche ist endlich der Sommer in der Hauptstadt angekommen.

Zumindest scheint es so, beim ersten Halbfinale ist der Biergarten Mauersegler am Eingang des Mauerparks hoch frequentiert. Allein der Fokus liegt nicht mehr so auf dem Fußball: Im Biergarten wird hausgemachter Eistee und Radler gereicht, die Menschen essen Salat und Steakbrötchen. An einem Tisch wird die Mindestlohn-Politik der SPD diskutiert, an einem anderen wird Legalisiertes konsumiert. All das geht heute, weil es einer dieser lauen Berliner Sommerabende ist. Es gab ja im Laufe des Turniers auch in der Hauptstadt den ein oder anderen Tag, an dem schonmal die Berliner Winterdepression an die Tür klopfte und niemand im Biergarten sitzen konnte. Stattdessen musste man sich um die Ecke in der berühmten Fußballkneipe Tante Käthe verkriechen – oder gleich auf dem heimischen Sofa. Heute aber gab es zum Anpfiff einen schönen Sonnenuntergang; da hält dann auch das Prenzelberger Laufpublikum beim Vorbeischlendern auf dem Parkweg gern an, um einen Blick aufs Halbfinale zu werfen. Ein EM-Abend mit leichtfüßigen Sommergefühlen. Doch nur zwölf Stunden später geht an derselben Stelle schon wieder ein prasselnder Regenschauer mitsamt Gewitter nieder. Bei der WM 2006, als Kaiser Franz Beckenbauer noch das Wetter machen konnte, war doch irgendwie vieles besser.

„Not yet“

Fanzones an Brandenburger Tor und Reichstag, Mittwoch, 10. Juli
Niederlande – England 1:2

Die Engländer feiern nach dem Finaleinzug vor dem Reichstag.Foto: Nelis Tom Heidemann

Zum Anpfiff des Halbfinales der Engländer regnet es wie aus Kübeln – es kriegt nun mal jeder das, was er verdient. Die englische Nationalmannschaft wurde während des Turniers von der Öffentlichkeit niedergemacht wie kein anderes Team, wie konnte man mit solch einem starken Kader nur solch einen unterirdischen Fußball spielen? Wenn die Deutschen nach dem eigenen Aus darüber diskutierten, wem denn nun die Herzen der Gastgeber zu schenken seien, gab es vielerorts die klare Meinung: England auf jeden Fall nicht.

Der Haken an der Sache mit dem Wetter: Die Engländer fühlen sich im Regen pudelwohl. Sie sitzen am Brandenburger Tor oberkörperfrei auf den Schultern ihrer Kumpels und grölen God save the king. Hey, es ist Fußball, unser Team im Halbfinale, und das alles im Herzen von good old Germany – mit dem Regen ist dazu ist doch alles parat für eine night to remember. Und so kommt es dann tatsächlich: England trifft spät zum Sieg, im mobilen Stadion auf der Fanzone am Reichstag läuft ein Remix von Hey Jude als Torhymne, und es lässt sich langsam nicht mehr leugnen, dass das alles ja doch schon irgendwie Charme hat. Eine hochveranlagte Truppe, die stets kurz davor ist, in ihrem eigenen Chaos zu versinken. Auf die von außen immer nur draufgetreten wird. Und die sich am Ende dann doch irgendwie zu Ruhm und Ehre durchschlägt. Wo könnte diese Geschichte besser ankommen als bei den Berlinern? Nach der Aftershow-Party im Stadion am Reichstag, wo zu Don´t stop me now oder natürlich Three Lions (Football is coming home) noch heftig getanzt wird, schleichen ein paar schimpfende Fans in Deutschlandtrikot von dannen („England darf das am Sonntag nie im Leben machen!“). Die Engländer selbst sind siegestrunken und bringen nicht viele verwertbare Sätze heraus, nur auf eine Frage haben sie eine ganz klare Antwort. „Habt ihr denn Tickets fürs Finale am Sonntag im Olympiastadion?“ – „Not yet. Not yet.“

Soy espanol!

Drachenberg, Sonntag, 14. Juli
Spanien – England 2:1

Feuerwerk im Zwielicht: Blick vom Drachenberg aufs Olympiastadion während der Eröffnungsfeier des Finales.Foto: Nelis Tom Heidemann

Normalerweise ist der Drachenberg einer der wenigen Berliner Orte der Stille. Nach einem kurzen, aber knackigen Aufstieg hat man von hier oben die ganze Stadt im Blick. Vor allem an solch einem klaren Tag wie diesem. Das Olympiastadion ist anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt, heute Abend ist es der Schauplatz des EM-Finals. Das Feuerwerk schon vor dem Anpfiff fügt sich ein in das Sonnenuntergangs-Panorama, es schwappen klar vernehmbar die englischen Fangesänge vom Stadion auf den Aussichtspunkt herüber.

Dann beginnt das Spiel, ein leichtes Hintergrundrauschen ist ständig zu hören, in der zweiten Halbzeit dann die Torjubel: Ein erster richtiger Aufschrei, die Spanier treffen kurz nach der Pause. Um 22.31 Uhr aber folgt die akustische Eruption, ohne einen Blick auf den Liveticker ist klar: England hat ausgeglichen, sie singen Don´t take me home gleich hinterher. Um 22:45 wieder ein Aufschrei, etwas dumpfer, und da keine englischen Pub-Lieder folgen ist klar, wer getroffen hat und Europameister wird. So schließt sich der Kreis für die Spanier, die am zweiten Turniertag diese EM in Berlin mit ihrem ersten Spiel eröffnet hatten und nach dem furiosen 3:0 gegen Kroatien erst recht zum Turnierfavorit geworden waren. „Soy espanol“ ist der Schlachtruf, der den Rahmen für die Berliner EM bildet. Das Stadiondach färbt sich rot-gelb, auf dem Drachenberg ist es frisch und finster geworden. Das letzte Feuerwerk zur Pokalübergabe ist kurz, aber gigantisch, der Rauch zieht über das Stadiondach hinweg in die Ferne. Im Hintergrund erklingt „We are the champions“.

Nelis Heidemann ist Volontär der Berliner Morgenpost. Er schoss die Bilder dieser Geschichte mit der Analogkamera Olympus AF10. Ihre alte Optik soll dazu beitragen, die kleinen Szenen abseits der perfekt ausgeleuchteten UEFA-Momente entsprechend in Szene zu setzen.


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Berliner Morgenpost, 15.07.2024
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