Am 11. März, um 14.46 Uhr Ortszeit erschüttert ein Seebeben der Stärke 9,0 den Nordosten Japans. Eine Dreiviertelstunde später treffen gigantische Flutwellen auf die Pazifikküste und walzen binnen Minuten alles nieder. Schiffe, Autos, Häuser und Menschen werden durch die Schlammmassen mitgerissen. Rund 20.000 Menschen sterben. Der Tsunami trifft auch die Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi: Die Pumpen für die Kühlung fallen aus, die Notstromversorgung auch, aus den Anlagen steigt eine Rauchwolke.
Die Tage darauf kommt es immer wieder zu Explosionen – und zur Kernschmelze in den Blöcken 1 bis 3. Große Mengen radioaktiver Stoffe gelangen in Luft, Wasser, Boden. Rund 300 Quadratkilometer in der Region Fukushima sind bis heute Sperrgebiet. Es ist die weltweit schwerste Atomkatastrophe seit dem Super-GAU von Tschernobyl 25 Jahre zuvor.
Die Schockwellen reichen bis Berlin. Eigentlich wollte die damals regierende schwarz-gelbe Koalition den ursprünglich von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg zurückdrehen. Die Laufzeiten der deutschen Atommeiler waren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schon verlängert. Doch mit Fukushima kommt der Sinneswandel. Bereits am 14. März verkündet die Bundesregierung das sogenannte Atom-Moratorium: Alle deutschen AKWs sollen einer Sicherheitsprüfung unterzogen und die ältesten für drei Monate stillgelegt werden.
Die Sorge in Deutschland steigt, es kommt bundesweit zu Massenprotesten gegen die Atomkraft, die Umfragewerte für die Grünen schießen nach oben - und Winfried Kretschmann wird im Mai nach dem Wahlsieg in Baden-Württemberg Deutschlands erster grüner Ministerpräsident. Wenig später sagt auch Merkel endgültig: Atomkraft? Nein Danke. Acht Atomkraftwerke werden stillgelegt, der Ausstieg insgesamt wieder beschleunigt und neu festgeschrieben – stufenweise bis 2022.
Deutschland ist bald raus aus der Atomkraft: Waren 2011 noch 17 deutsche Reaktoren am Netz, so sind zehn Jahre nach Fukushima noch sechs verblieben. In diesem Jahr werden drei davon abgeschaltet (Grohnde, Brokdorf, Gundremmingen C). Und im kommenden Jahr gehen in Deutschland auch die letzten drei Atommeiler vom Netz ( Isar 2, Neckarwestheim 2, Emsland). Dann wird kein deutscher Atomstrom mehr durchs Netz fließen. International zeigt sich ein anderes Bild.
Neben Deutschland hat auch die Schweiz unter dem Eindruck von Fukushima noch im Jahr 2011 den Atomausstieg beschlossen. Andere Länder hatten sich schon lange zuvor dafür entschieden - wie Italien. Dort war nach Fukushima der Wiedereinstieg vom Tisch. Weltweit wurden 65 kommerzielle Reaktoren seit 2011 abgeschaltet. Doch die Kernenergie ist längst kein Ausläufer. Die globale Energieproduktion aus Atomkraft ist nach einem Fukushima-Knick wieder angestiegen - um 3,5 Prozent im Zehn-Jahres-Vergleich von 2009 bis 2019.
Getrieben wird diese Entwicklung von China. Die Volksrepublik hatte zwar unmittelbar nach dem GAU in Japan die Genehmigungen für neue Kraftwerke vorübergehend auf Eis gelegt, doch danach fleißig gebaut - um die eigene CO₂-Bilanz zu schönen und um den großen Energiebedarf ohne Abhängigkeiten vom Ausland zu stillen. Nach Fukushima gingen in China 34 neue Reaktoren ans Netz – von weltweit 57. Weitere sind geplant oder im Bau. China ist somit zur Nummer drei weltweit beim Atomstrom aufgestiegen - von Platz neun vor Fukushima.
Selbst in Japan erlebt die Kernenergie in den letzten drei Jahren wieder einen leichten Aufschwung. Nach der Katastrophe von 2011 gab es aber einen deutlichen Einbruch. Sämtliche Reaktoren des Landes wurden heruntergefahren, um Sicherheitschecks zu durchlaufen. Japan, das vor Fukushima die Nummer drei beim Atomstrom weltweit war, blieb vorübergehend atomstromfrei. Doch die Betreiber konnten mit Unterstützung der liberaldemokratischen Regierung eine handvoll Reaktoren wieder in Betrieb nehmen. Ein breites Hochfahren der Atomkraft scheiterte aber am Widerstand der Regionen. Und sogar das Umweltministerium spricht seit 2019 vom Ausstieg.
Ganz an der Spitze hat sich kaum etwas getan. Frankreich ist nach wie vor der zweitgrößte Atomstrom-Produzent der Welt nach den USA. Deutschlands Nachbarland hat im Februar die Laufzeiten seiner alten Meiler auf 50 Jahre verlängert. Auch Schweden bleibt noch beim Atomstrom, die Skandinavier hatten 2019 sogar noch den höchsten Pro-Kopf-Wert weltweit. Allerdings ist dort die Atomkraft auch ohne politisches Abschaltdatum ein Auslaufmodell - aus wirtschaftlichen Gründen: So ging zum Jahreswechsel der Reaktor Ringhals 1 vom Netz, weil das Nachrüsten für den Betreiber Vattenfall schlicht nicht lohnt.
Doch woanders wird angeschaltet. Rund 50 Reaktoren befinden sich nach Angaben der IAEA zurzeit im Bau, weitere sind geplant. Und es gibt Neueinsteiger wie Weißrussland, die Türkei oder Bangladesch. Auch Polen hat erste Pläne für AKWs. Ausgerechnet die Klimadebatte gibt dem Atomstrom Rückenwind - als vermeintlich saubere Energie. Doch klimaneutral ist die Atomkraft keinesweg. Eine Studie für die österreichische Regierung kommt jüngst zu dem Fazit, dass sie keinen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leiste. Kernkraft verursache zwar weniger CO₂ als fossile Brennstoffe. Aber bei Sonne, Wind, Wasser gibt es noch geringere Emissionen – ohne die hohen Risiken.