Kraftwerk erhalten einen Grammy für ihr Lebenswerk. Wir spielen noch einmal die größten Hits.
So reagieren Altersgenossen der Band und Menschen, die wissen, was ein Lebenswerk ist.
Die Tänzerin
Der Geograf
. „Boing Boom Tschak“ ist die dadaistische Lyrik, die den Klang eines Schlagzeugs imitieren sollen. Kinderlaute, ein Singspiel für Erwachsene. Als „Boing Boom Tschack" 1986 erscheint, ist Gerhard Kemnitz Lehrer in Mirow, im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Er unterrichtet Geografie. Mit dem Zeigestab kann er über Karten und Ländergrenzen hinwegfahren. Weder er noch seine Schüler wissen zu diesem Zeitpunkt, dass in wenigen Jahren die Mauer fallen wird. Und dass es dann keinen Stab mehr braucht, um nach Frankreich, Amerika oder England zu reisen. Man muss nur ein Ticket lösen, und die Welt steht einem offen. Mit seiner Frau ist Gerhard Kemnitz dieses Jahr 70 Jahre verheiratet. Gnadenhochzeit sagen einige dazu. Aber Herr Kemnitz braucht keine Gnade. Er und seine Hanni sind zufrieden. „Boing Boom Tschack“, sagt er noch einmal.Die Reisende
Margarete Klusemann, 61. Sie denkt an Autofahrten mit VW-Käfer. Einen Käfer hatte damals jeder, der jung war und irgendwohin fuhr. Mit offenen Fenstern. Auf dem Beifahrersitz brannte immer eine Zigarette, und der Rauch zog so schön gequirlt in den Fahrtwind auf den Straßen. Margarete Klusemann wird in Knittelfeld, Österreich geboren. Von 1983 bis 1989 leitet sie ein Kulturzentrum in Graz. Jahre später zieht sie nach Berlin. Zusammen mit Klaus Kammerer wird sie viele Architektur-Projekte betreuen. 22 ist sie, als Kraftwerk „Autobahn“ veröffentlichen. Und wirklich, das war so, den Song hat sie beim Autofahren tatsächlich gehört. Ralf Hütter hatte ursprünglich auch Fahrtgeräusche für „Autobahn“ aufgenommen, die waren aber unbrauchbar – und Produzent Conny Plank empfahl Kraftwerk, für solche Geräusche einen Moog-Synthesizer zu benutzen. Kraftwerk war die erste Band, die mit einem deutschsprachigen Song die amerikanischen und britischen Charts eroberte. Der Österreicher Falco wird noch zehn Jahre brauchen, bevor er dann mit „Rock me Amadeus“ in beiden Ländern auf Platz 1 ging.Der Maurer
Wer heute an der Russischen Botschaft in Berlin vorübergeht, Unter den Linden, da, wo die Touristenströme sich vermengen wie Blut und Plasma und was alles in den Adern fließt, der sieht das Werk von Hans-Joachim Richter. Nach dem Krieg, er ist noch nicht mal 20 und trotzdem so erwachsen, baut er als Maurer im Ostsektor mit seinen Händen Stein auf Stein die Botschaft auf. 1953 flieht er in den Westen. Verdingt sich hier und dort. Auch im Ruhrgebiet. Vor 30 Jahren wird er als Schauspieler entdeckt, spielt einen Trinker im Schimanski-Tatort. Tanzt bei „My Fair Lady“ im Theater des Westens. Er lag so lange im Koma vor einiger Zeit. War angeschlossen an Maschinen, an unzählige Schläuche. „Die Roboter“ hört er. Er schließt die Augen, macht sie wieder auf. „Roboter sind so gut. Sie retten Leben. Maschinen sind unsere Zukunft.“ Die Operationen, es sind so viele, er kann sie nicht mehr zählen, hat er überlebt. Er hat einen künstlichen Darmausgang. Aber Herr Richter kann noch tanzen, er kann noch lachen. Er lebt noch. Er hat es den Robotern zu verdanken. Er war selbst einer. „Mit Robotern kann man bis ins Weltall fliegen“, sagt er noch.Der Gleichaltrige
Er wird im gleichen Jahr geboren wie Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter. Kammerer wächst bei Regensburg auf. Hütter in Krefeld. Er geht an die Akademie Remscheid. Kammerer studiert Architektur in München. Später wird er die Residenz bauen, in der unsere Senioren heute wohnen. Seine Augen beginnen zu leuchten, als er die ersten Takte von „Das Model“ hört. 1978 bringen Kraftwerk diesen Song heraus, Kammerer gründet mit Freunden das erste eigene Architekturbüro. Weniger als vier Minuten geht das Stück. Einfaches Schlagzeug. „Sie ist ein Model und sie sieht gut aus“, singt Kammerer jetzt mit. Er summt und denkt an früher. Wie kühl der Song doch ist, wie steril. So muss sich nicht erwiderte Liebe anfühlen. Der Text zu „Das Model“ wurde nicht von Kraftwerk geschrieben, sondern von Emil Schult, einem Beuys- und Richter-Schüler. Und der war damals wirklich in ein Model verliebt. „Das Model“ ist ein zeitloses Stück. Gesetzmäßigkeiten wie „Sie trinkt im Nachtklub immer Sekt, korrekt / Und hat hier alle Männer abgecheckt“, gelten auch noch dieses und die nächsten Jahre auf jeder Fashion Week. Das betrunken klingende, herrlich gelallte „korrekt“ auf der Aufnahme stammt übrigens von einem Düsseldorfer Kellner, der tatsächlich immer Sekt ausschenkte.