Tief in mirMein Leben mit Krebs

„Sie haben Krebs.“ Ein Satz, der jeden Menschen bis ins Mark erschüttert. Unser Fotograf Reto Klar bekam im vergangenen Herbst diese Diagnose – und begann, auf seine Art, mit der Krankheit umzugehen: Er fotografierte andere Betroffene und fragte sie, was der Krebs für ihr Leben bedeutet. Zusammen mit seiner Frau Britta Klar (Text) machte er ein Buch daraus. Die Porträts und Geschichten zeigen, wie eng Mut und Angst, Traurigkeit und Lebensfreude beieinander liegen.


„Ich bin lange über meinem Ablaufdatum“

Alexander Ewen, 54 Jahre
Diagnose Glioblastom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Sie haben da etwas im Kopf, was da nicht hingehört!“ So erfuhr Alexander Ewen am 31. Mai 2016, dass er ein Glioblastom, einen bösartigen Hirntumor hat. „Gibt es eine beknacktere Aussage?“, sagt Alexander Ewen. „Was gehört da denn nicht hin? Ein Alien?!“ Alexander Ewen ist heute 54 Jahre alt, inzwischen ist er „seit acht Jahren mit diagnostizierten Glioblastom unterwegs“. Maximal zwei bis drei Jahre Überlebenschance gab man ihm damals. „Ich bin also inzwischen lange über meinem Ablaufdatum“, sagt der gebürtige Norddeutsche, der wegen seiner Ehefrau ins Rheinland nach Köln gezogen ist.

Schon in der Zeit vor der Diagnose ging es dem Senior Manager der RTL-Mediengruppe gar nicht gut. Alles begann im Februar oder März mit einem Schwindelgefühl und Gleichgewichtsstörungen, die vom HNO-Arzt einer verschleppten Grippe zugeordnet wurden, die ihm auf das Mittelohr geschlagen war. Doch dann kamen Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen hinzu, irgendwann Kopfschmerzen bis hin zum Erbrechen und Seheinschränkungen. „Auf eigenen Wunsch wurde dann ein MRT gemacht, das war an einem Freitag. Und am Samstag hat meine Frau mich ins Auto gepackt und ist mit mir zur Uniklinik gefahren, weil es mir so schlecht ging.“ In der Klinik lagen auch seine MRT-Aufnahmen. „Dann kam dieser beknackte Spruch, mit der Sache in meinem Kopf, die da nicht hingehört. Tja, und anderthalb Wochen später wurde das Köpfchen dann aufgemacht. Mir wurde ein bierdeckelgroßes Stück Schädeldecke rausgefräst, das ist schon krass – aber die OP war dennoch easy, am Tag danach saß ich in der Klinik-Cafeteria.“ Der Tumor hatte die Größe eines Tennisballs, die längste Kantenlänge maß 7,5 Zentimeter. Die Biopsie ergab ein Glioblastom, die bösartigste Form eines Hirntumors. „Ich hatte gerade meine Nina frisch geheiratet, ein dreiviertel Jahr vor der OP, und ich war Mitte 40. Deswegen hatte ich von Anfang an den Kampfgeist, dem Tumor keine Chance zu gegeben. Den Tod habe ich vom ersten Tag an aktiv verdrängt: Sterben ist nicht!“ Nach der OP bekam Alexander Ewen noch eine Tablettenchemo und Bestrahlung. „Bei der Chemo war schon eine körperliche Belastung da, aber das war okay. Die 30 Runden Bestrahlung waren härter, die haben mich ganz schön ausgeknockt.“ Mit der Arbeit hat er dennoch wieder angefangen: „Viel zu schnell, im Nachhinein betrachtet, aber ich wollte nicht langsam machen. Sturkopf eben!“ Er hat allen offen erklärt, was er hat und „ich hatte dann ja auch diese markante Verkabelung auf den Kopf.“ Die „markante Verkabelung“ nennt sich Tumor Treating Fields, kurz TTF, eine zum Zeitpunkt seiner Diagnose neue Therapieform: Elektrische Felder mit ganz bestimmten Frequenzen stören die Krebszellteilung, hemmen das Tumorwachstum oder lassen im besten Fall die Krebszellen – und nur die – absterben. „Ich mache die Therapie seit dem 22. August 2016 und trage das durchgängig: Beim Schlafen, beim Duschen, beim Arbeiten.“ Alexander Ewen hat sich längst daran gewöhnt – und ist von der Wirkung überzeugt. „Ich halte wirklich viel mehr von wissenschaftlichen Studien als von alternativen Therapieformen, aber ich muss ganz ehrlich sagen: Hätte man mir in der Situation der Diagnose gesagt, dass es hilft, wenn du um zwölf Uhr nackt mit einer schwarzen Katze über dem Kopf wirbelnd auf dem Dorfplatz stehst – ich hätte es gemacht.“ Mittlerweile hat Alexander Ewen Ehrenämter für sich entdeckt, wie er selbst sagt. Er macht unter anderem die Schwerbehindertenvertretung bei RTL, sitzt im Betriebsrat und ist zudem seit etwa sechs Jahren Mentor für Neupatienten mit Glioblastom. „Wenn du dich ehrenamtlich in dem Feld betätigst, bleibt es leider nicht aus, dass Menschen gehen. Aber es gibt auch viele, die länger bleiben, als ihnen vorausgesagt wurde – und es werden immer mehr Langzeitüberlebende. Ich bin da häufig derjenige, der als Beispiel herumgezeigt wird. Dafür gibt es aber leider keine Anstecknadel. Ich stelle mich aber auch gern überall hin, denn ich finde es wichtig, dass es bessere Informationen gibt. Und ich finde es cool, wenn andere Patienten zu mir sagen: Ich möchte auch dahin, wo du bist.“ Ein Weg, für den natürlich auch Alexander Ewen lange gebraucht hat: „Die Akzeptanz, dass man nicht mehr so leistungsfähig ist wie vorher, ist katastrophal. Und sich das einzugestehen tut auch weh. Aber wir feiern jedes Jahr am 31. Mai meinen zweiten Geburtstag – und das noch immer tun zu können, ist jedes Mal ein unglaublich gutes Gefühl.“


„Ich mag meinen Körper heute viel lieber als vor der Diagnose“

Katharina Kohnle, 37 Jahre
Diagnose Gebärmutterhalskrebs und Brustkrebs

Foto: Reto Klar

Beinahe immer teilt eine Krebsdiagnose das Leben in ein Davor und ein Danach. Viele sehnen sich nach dem Davor, fast alle schaffen es jedoch, dem Danach etwas Gutes abzugewinnen. Bei Katharina Kohnle geht dieser Zugewinn noch ein bisschen weiter. „Ich möchte auf keinen Fall in mein Vor-Krebs-Leben zurück“, sagt die 37-jährige aus der Nähe von Rosenheim, die bereits mit 16 Jahren eine Tochter bekam und heute schon Oma ist.

Sie lacht fast die ganze Zeit während des Gesprächs, wirkt glücklich und angekommen. Dabei hat die junge Frau, die bis vor kurzem bei einem Automobilzulieferer in der Personalabteilung gearbeitet hat, bereits zwei Krebsdiagnosen hinter sich. 2015, mit 28 Jahren, bekam sie die Diagnose Gebärmutterhalskrebs. „Ich komme aus einer Familie mit vielen Krebserkrankungen. Mein Vater hatte schwarzen Hautkrebs und aktuell Prostatakrebs, meine Mutter hatte vor zwölf Jahren ein Glioblastom und danach Eierstockkrebs. Und mein Abstrich beim Gynäkologen ist immer schlechter geworden“, sagt Katharina Kohnle. „Bei einer kleinen OP, die vorsorglich gemacht wurde, wurde dann ein Tumor gefunden.“ Die Gebärmutter wurde entfernt. Diese Diagnose jedoch änderte das Leben von Katharina Kohnle und ihrem Mann, den sie 2013 kennengelernt hatte, kaum. „Ich habe nach einer kurzen Krankschreibung da weitergemacht, wo ich aufgehört habe. Viel Arbeit, viel Stress, viele Überstunden. Wir hatten Karriereambitionen, haben immer alles auf später geschoben, waren wenig im Moment und die Arbeit hat unser Leben bestimmt.“ Bis zum Mai 2021. Einen Tag vor ihrem 34. Geburtstag und fünf Tage vor dem 18. Geburtstag ihrer Tochter bekam Katharina Kohnle wieder eine Diagnose: Brustkrebs. „Ich dachte, dass ich mit dem Gebärmutterhalskrebs meine Karte schon bekommen hatte. Die Brustkrebsdiagnose hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Einer meiner ersten Impulse war: Ich höre auf zu arbeiten!“ Ihre Diagnose fiel in die Corona-Zeit, es gab wenig Chance auf Austausch und so begann Katharina Kohnle in den sozialen Medien zu suchen. „Ich habe bei Instagram festgestellt, dass sich da eine ganze Welt an Brustkrebs erkrankten jungen Frauen auftut und ich fand die alle megacool!“ Sie stieß schnell auf das Buusenkollektiv, einen gemeinnützigen Verein von Betroffenen für Betroffene, bei dem sie heute Gründungsmitglied ist. „Ohne die hätte ich das alles nicht so gut weggesteckt. Zusammen ist es leichter und ich habe da meine besten Freundinnen gefunden.“ Nach der Diagnose hatte Katharina Kohnle viel Zeit, nachzudenken. Über ihr Leben, die Krankheit und was sie eigentlich möchte. „Ich habe einen Oncotype-Test bekommen, das heißt, eine Probe von meinem Tumor wurde in die USA geschickt. Dort wird der Chemo-Benefit berechnet und die Wahrscheinlichkeit für Metastasen.“ Sechs lange Wochen musste sie auf das Ergebnis warten. „Laut diesem Test hätte eine Chemotherapie bei mir einen Benefit von 1,6 Prozent gehabt. Deswegen habe ich keine Chemo gemacht, bekomme aber eine etwas stärkere Antihormontherapie für zehn Jahre.“ In dieser langen Wartezeit hat sie eine Entscheidung getroffen: Bei der Krebs-OP ließ sie sich die Brust abnehmen und nicht wieder aufbauen. „Das war einfach mein subjektives Sicherheitsempfinden. Ich vertrage so vieles nicht, reagiere auf vieles allergisch – ich wollte kein Silikon in meinem Körper haben.“ Selbst nach den Überredungsversuchen eines Schönheitschirurgen am Abend vor der OP entschied Katharina Kohnle: Es gibt keine andere Option für mich! Nach einem Antrag bei der Krankenkasse ließ sie sich später auch die zweite Brust abnehmen. „Heute weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich mag meinen Körper heute viel lieber als vor der Diagnose! Ich definiere mich und Weiblichkeit nicht über Brüste. Und ich bin immer noch superstolz auf mich, dass ich mich durchgesetzt habe.“ In keinem Wort spürt man bei Katharina Kohnle Verdruss oder Verlust über und wegen der Krankheit. Dennoch möchte sie klarstellen: „Krebs ist richtig scheiße, und ich kann auch verstehen, wenn Menschen da nichts Positives dran finden. Aber ich habe jetzt zwei so schöne Jahre gehabt, war in der Arktis und habe Eisbären gesehen, habe dafür meinen Bausparvertrag gekündigt. Ich habe mir einen Camper-Van gekauft, war segeln, lebe bewusster und würde nicht zurückgehen mit dem Wissen, was ich heute habe. Ich fülle meine nächsten fünf Jahre heute mit mehr, als ich früher die nächsten 20 Jahre gefüllt hätte.“


„Ich war nie pessimistisch. Aber mein Optimismus ist noch viel größer geworden“

Marc Nowak, 50 Jahre
Diagnose Lungenkrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Der Sommer 2020 war schlimm für Marc Nowak. Er hatte dauerhaft Kopfschmerzen, musste sich oft übergeben und er hatte neurologische Ausfälle, die sich auf seinen Geschmackssinn, das Gleichgewicht, die Sprache und das Schreiben auswirkten. „Ich dachte, ich war überarbeitet. Ich habe etwa 50 oder 60 Stunden die Woche gemacht.“ Seine Führungsposition im IT-Bereich eines großen Konzerns erforderte das. In Absprache mit dem Hausarzt sollte ein Urlaub mit der Familie für Entspannung und Besserung sorgen – doch die Symptome verstärkten sich.

Nach der Rückkehr schickte der Hausarzt Marc Nowak ins MRT. „Ich wurde danach gleich zur Seite genommen. Man sagte mir, es gibt Veränderungen in meinem Kopf, ich solle mich damit schnellstmöglich in einem Krankenhaus vorstellen.“ Noch am selben Tag ging es in die neurologische Notaufnahme der Uniklinik in Bonn. Der Verdacht dort: Die Veränderung im Kopf könnte die Metastase eines Lungentumors sein. „Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht dieses typische Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Dafür ging es mir einfach viel zu dreckig.“ Marc Nowak bekam Cortison und dadurch ging es ihm endlich besser. Die Schwellung durch die Metastase ging zurück, die Symptome gingen mit. Doch ein Röntgenbild bestätigte den Krebsverdacht. Weil es ihm besser ging, wurde ihm seine Lage bewusster. „Ich habe dann angefangen, mir gedanklich Päckchen zu machen. Das war für mich der beste Weg – zu überlegen: Was habe ich jetzt direkt vor der Nase? Und das war, dass ich erst mal das Ding im Kopf loswerden musste.“ Die Metastase sollte operativ entfernt werden. Den Krebs in der Lunge schob Marc Nowak also noch einmal beiseite. „Weil ich mir dachte, wenn ich das mit dem Kopf nicht überlebe, brauche ich mir über den Rest auch keine Gedanken mehr zu machen.“ Doch die riskante Operation lief sehr gut, die Ärzte konnten alles entfernen. Die Biopsie erhärtete die Diagnose eines Nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms jedoch endgültig. Und so war das nächste Päckchen dran: Wie geht es weiter mit der Lunge? Die Bestrahlung vom Kopf lief noch als „Nebenkriegsschauplatz“, wie Marc Nowak sagt. Und aufgrund der neuesten Befunde, die weitere Metastasen in einem Lymphknoten und der Leber sahen, stand die Aufnahme einer palliativen Therapie im Raum. Stadium IV – Endstadium. „Mein Onkologe sagte aber, er glaube anhand der Bilder nicht an Metastasen, aber natürlich müsse das weiter untersucht werden.“ Sollten keine weiteren Metastasen gefunden werden, könne man den Haupttumor in der Lunge operieren – andernfalls wäre das keine Option … „Das war hart für mich, weil ich so Bilder im Kopf hatte, wie einem der ganze Brustkorb geöffnet wird und davor hatte ich schlicht Angst. Die Alternative wäre jedoch – kurz gesagt – keine Zukunft zu haben, weil der Krebs gewinnen würde.“ Doch der Lymphknoten war lediglich entzündet und in der Leber befand sich auch keine Metastase. „Die Skepsis und der Sachverstand meines Arztes haben schlicht mein Leben gerettet!“ Im Oktober wurde der linke Oberlappen und ein Teil vom Unterlappen der Lunge entfernt. Auch diese OP lief gut, der Primärtumor war aus dem Körper. „Aber irgendetwas war da noch. Der Operateur berichtete von befallenem Gewebe, welches er nicht entfernen konnte. Ein richtiges: Sie sind krebsfrei! war das also leider nicht.“ Im Dezember begann die Immuntherapie, alle drei Wochen bekam Marc Nowak eine Infusion, nach ein paar Monaten alle sechs Wochen die doppelte Menge. Die Nebenwirkungen hielten sich in Grenzen und waren „ein kleiner Preis dafür, dass man am Leben bleiben darf“. Zwei Jahre lief die Therapie, bis Ende 2022. „Das Absetzen war schwer für mich, weil ich dachte, das Medikament hat den Krebs in Schach gehalten und jetzt kann er wieder. Aber bisher kam nichts und wenn ich jetzt noch etwas durchhalte, dann gehöre ich zu den wenigen Prozent, die fünf Jahre überleben. Deswegen hat sich auch meine Perspektive verschoben. Von: Ich möchte diesen Monat überleben! zu: Vielleicht erreiche ich das Rentenalter ja doch! Denn ich war nie pessimistisch. Aber mein Optimismus ist mittlerweile noch viel größer geworden!“ Seinen Status würde Marc Nowak als krebsfrei bezeichnen, aber nicht als geheilt. Unheilbar, wie sein Krebs eingestuft wird, findet er aber auch ein zu starkes Wort. Und über den Tod hat er auch nie viel nachgedacht. „Das bringt mir doch nichts. Ich denke aber viel mehr über das Leben nach. Und das bringt mir was!“


„Meine Frau ist für mich der Anker und das Leben“

Hubert Harbacher, 71 Jahre
Diagnose metastasierter Prostatakrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Was Liebe alles schaffen kann, zeigt die Geschichte von Hubert Harbacher und seiner Frau Doris. Der Techniker und die Hebamme sind seit 42 Jahren verheiratet. Als der gebürtige Oberbayer, der heute in Hamburg lebt, an seinem 65. Geburtstag im März 2018 die Diagnose metastasierter Prostatakrebs bekam, brach für ihn eine Welt zusammen. Er war sich sicher, dass er diese Diagnose nicht lange überlebt. Halt gibt ihm seine Frau.

„Alle Fixpunkte in meinem Leben waren nur noch Träume, nicht mal mehr eine Hoffnung. Eine Hoffnung hat immer eine Verankerung im Boden, ist etwas, an dem man sich festhalten kann. Für mindestens zwei Jahre hatte ich diesen Halt verloren. Meinen Lebensmut habe ich nur durch die Stärke meiner Frau wiedergefunden. Sie ist immer die Ruhe selbst geblieben, mit der absoluten Überzeugung, dass wir das schaffen.“ Nach einem vierwöchigen Asienurlaub Anfang 2018 fühlte sich Hubert Harbacher nicht gut – ohne genau benennen zu können, was ihm fehlte. Er wurde krankgeschrieben, ging dann wieder zur Arbeit. „Mitte Februar habe ich dann plötzlich einen vernichtenden Schmerz im Rücken gespürt. Ich war unfähig, zu arbeiten und bin wieder zum Hausarzt. Der hat Puls und Blutdruck gemessen, mich nicht weiter untersucht und einfach wieder krankgeschrieben.“ Wochen vergingen, Hubert Harbacher hat Hilfe gesucht, sie nicht so recht gefunden und möglichst normal weitergemacht. Eine andere Ärztin renkte ihn ein, der Hausarzt wusste auch nicht weiter. „Eine Freundin von uns arbeitet beim Neurologen und besorgte mir letztendlich über ihre Ärztin eine Überweisung für ein MRT. Am Donnerstag in der Woche vor meinem Geburtstag klingelte dann das Telefon. Unsere Freundin rief an, mit Tränen in der Stimme und sagte: Hubert, bitte komm vorbei!“ Die gesamte Wirbelsäule, der gesamte Rumpf, das knöcherne Skelett von Hubert Harbacher war voller Metastasen. „Da war klar, woher die Rückenschmerzen kamen. Unklar war, wo der Primärkrebs saß. Entweder in der Lunge oder in der Prostata, weil das dafür die typischen Metastasen waren.“ Der PSA-Wert brachte Klarheit. Ein Wert bis 4 ist normal, Hubert Harbacher hatte 184. „Den ersten Satz, den mein Urologe sagte, der auch mein Onkologe ist, als er die Ergebnisse sah, den werde ich nie vergessen: Herr Harbacher, Sie haben ihre Lebenserwartung drastisch reduziert. Ich war nie zur Vorsorge, aber da meine Prostata sehr klein geblieben ist, hätte man sie manuell gar nicht als auffällig erkannt.“ Alle drei Monate bekommt Hubert Harbacher Trenantone gespritzt und nimmt täglich ein Medikament gegen das Metastasenwachstum. Die Aktivität des Krebses ging innerhalb kürzester Zeit auf Null und so ist es bis heute geblieben. Weil das Testosteron unterdrückt wird, das Hormon, von dem der Krebs sich ernährt. „Heute geht es mir psychisch und körperlich gut. Ich bin aber bei einem Psychiater in Betreuung und nehme einen Stimmungsaufheller, weil es mir sehr lange sehr schlecht ging. An Krebs stirbt man – dieser Gedanke hat mich gequält und ich habe viel an meinen eigenen Tod gedacht. Das ging wirklich tief, ich hatte Depressionen und habe an Selbstmord gedacht. Ich habe einfach nicht zu hoffen gewagt, dass ich damit leben kann.“ Heute ist das anders. Und wie! „Heute fühle ich mich wie ein anderer – und ich fühle mich besser denn je! Ich bin glücklicher, unsere Beziehung ist noch intensiver. Ich erlebe eine andere Art meines Lebens: Das Männlichsein, das Mannsein hat sich geändert, die Libido geht durch die Therapie zurück. Aber das Gefühl der Liebe zu meiner Frau hat sich so verfestigt. Meine Frau ist für mich der Anker und das Leben. Natürlich bedauere ich es manchmal, sexuell nicht aktiv sein zu können. Aber das hat mir die Möglichkeit gegeben, eine ganz neue Gefühlswelt zu erleben, weg vom Körperlichen. Das habe ich früher nicht für möglich gehalten.“ Auch seine Frau Doris bestätigt: „Der Sex ist nicht mehr da, aber das ist nicht wichtig. Das einzig Wichtige ist, dass er da ist! Außerdem sind wir uns körperlich trotzdem sehr nahe – manchmal muss ich ihn im Bett ein bisschen wegschubsen, dass ich mal Platz habe!“ Die zwei lachen – das tun sie die ganze Zeit, zwischen dem Paar ist die Liebe förmlich zu greifen. „Wir erleben so viele Glücksmomente! Dass ich die alle erleben darf!“, sagt Hubert Harbacher. „Ach, dieses Glücksgefühl, mit Doris durch die Gegend zu radeln. Manchmal kann ich mich dann vor lauter Glück gar nicht ausdrücken.“


„Ich bin so frei im Kopf, wie ich es noch nie war“

Stefan Schmitz, 51 Jahre
Diagnose Diagnose

Foto: Reto Klar

Es wirkte wie Ironie des Schicksals, als Stefan Schmitz im Mai 2019 die Diagnose Darmkrebs bekam. Denn der Grafikdesigner war von Anfang an der Art Director von yeswecan!cer, Deutschlands größter digitaler Krebs-Selbsthilfegruppe. „Das begann 2017 oder 2018, da war ich noch gesund, und ich habe durch meine Arbeit dort auch viel mit der Krebsgesellschaft zusammengearbeitet. Und da ich immer sehr leidenschaftlich bin bei dem, was ich tue, musste das dann beim Krebs wohl auch so sein – so habe ich versucht, mir das schön zu reden.“

Dabei war anfangs nichts schön zu reden: Der gebürtige Husumer, der heute in Hamburg lebt, hatte einen veränderten Stuhlgang, er dachte an einen Reizdarm, irgendwann kamen Schmerzen dazu. „Ich bin trotzdem relativ entspannt zur Darmspiegelung gegangen. Als ich aus meinem Propofoltraum erwachte, schaute mich ein Arzt mit traurigen Augen an und sagte: Das sieht nicht gut aus, Sie haben sehr wahrscheinlich einen Darmkrebs. Auf dem Rückweg vom Arzt rief das Krankenhaus schon an. Da dachte ich: Oha, das scheint ja schlimm zu sein. Auf dem Weg nach Hause lief im Radio „Losing my religion“ von REM und da dachte ich: Wie oft werde ich dieses Lied noch hören können? Ich höre gerne und viel Musik – aber wenn ich tot bin, wird es schwierig, noch Musik zu hören …“ Um seine Frau und seine damals 16-jährige Tochter machte sich der Grafiker die meisten Sorgen. „In einer ihrer wichtigen Lebensphasen, der Pubertät, im Krankenhaus zu sein, ist mir sehr schwergefallen”, sagt Stefan Schmitz, der seit Jahrzehnten den Spitznamen „Doktor“ hat. „Ich war der Erste aus Husum, der in Hamburg war. Ich hatte eine kleine Wohnung – da hatte ich viel Besuch von Freunden und aus Spaß schrieb einer der Freunde an meine Tür: ,Praxis für Zivildienstplatzsuchende Dr. Stefan Schmitz‘ – da war der Doktor geboren.“ Und nun kam der „Doktor“ selbst ins Krankenhaus. Da der Krebs nicht gestreut hatte, waren die Ärzte einigermaßen entspannt. Mit einer Chemo und Bestrahlung wurde der Tumor zunächst verkleinert, dann kam die Operation. „Ich bekam einen künstlichen Darmausgang, damit die operierte Stelle im Darm ausheilen konnte. Der sollte aber nach drei oder vier Wochen zurückverlegt werden.“ Und das wurde er auch. „Aber leider stellte sich heraus, dass der Darm an einer Stelle nicht richtig zugewachsen war und dadurch ist Stuhl in meinen Körper eingedrungen. Das führte zu Entzündungen im Körper.“ Es folgte eine weitere OP, Stefan Schmitz bekam wieder ein Stoma. Es folgten vier Jahre, in denen vieles versucht wurde, viel therapiert und operiert wurde. „Doch die Entzündung hatte sich so sehr im Körper verteilt, dass die Ärzte gesagt haben: Das wird nichts mehr. Die Entzündung geht nicht mehr weg und damit musste der Darmausgang bleiben. Aber ich hatte mich in der Zwischenzeit tatsächlich daran gewöhnt. Für mich war es schlimmer, all die Jahre in Behandlung zu sein und keinen Schlussstrich ziehen zu können. Deswegen war ich dann fein mit der Legung des dauerhaften Darmausgangs.“ Heute ist der „Doktor“ krebsfrei. Geblieben ist das Stoma. Mit dem Stefan Schmitz heute ohne Gram lebt. „Abgefahren finde ich, dass ich irgendwann so gelassen wurde! Ich habe es akzeptiert und erkannt, dass ich nicht viel dazu tun kann. Die Freude darüber, dass ich überhaupt noch lebe, ist bei mir so groß, dass alles andere überstrahlt wird. Denn mehr als Sterben kann man nicht. Aber in der Zeit, in der ich NICHT sterbe, genieße ich jetzt mehr. Dadurch bin ich so frei im Kopf geworden, wie ich es noch nie war. Vielleicht, weil jetzt die Angst fehlt. Ich lasse mich auf jedes Abenteuer ein, das das Leben mir anbietet – und das viel angstfreier als vorher und das ist ein schönes Gefühl. Der Verlust der körperlichen Unversehrtheit ist natürlich doof. Aber ich bin ein freierer Mensch.“ Stefan Schmitz hadert nicht damit, ob Fehler gemacht wurden von Seiten der Ärzte und er hadert nicht mit seinem Schicksal. „Manchmal habe ich natürlich schon überlegt: Was will mir diese Geschichte denn nun erzählen? Ich dachte eigentlich immer, mein Karmakonto wäre im positiven Bereich. Aber heute weiß ich, dass eine schlechte Erfahrung nicht unbedingt schlecht fürs Schicksal sein muss. Ganz im Gegenteil, sie kann auch Türen öffnen für neue positive Erfahrungen. Diese Positivität ist heute meine größte Stärke. Und die Erkenntnis, dass man das Leid nicht ändern kann – aber den Umgang damit.“


„Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“

Annette Polan-Efker, 61 Jahre
Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs, unheilbar, inoperabel

Foto: Reto Klar

Viele Erkrankte geben ihrem Krebs einen Namen. Bei Annette Polan-Efker heißt er Otto. Aber bei der 61-jährigen selbständigen Podologin gibt es auch noch Lissy – ihre Perücke. Beide sind heute Teil ihres Lebens. Die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekam sie im Jahr 2022. „Ich hatte meinen sektoralen Heilpraktiker gemacht und musste zu meiner Ärztin, um bescheinigen zu lassen, dass ich psychisch und physisch gesund bin. Sie nahm dafür Blut ab und dann rief sie mich montags morgens an und sagte, du gehst sofort ins Krankenhaus, du hast exorbitant hohe Leberwerte.“

Im Bochumer Krankenhaus wurde dann festgestellt, dass die Galle sich zugesetzt hatte. In der Galle wurde ein Stent gesetzt und eine Magenspiegelung gemacht. „Da ist noch etwas Anderes, haben sie gesagt und eine Biopsie von der Bauchspeicheldrüse gemacht.“ Dann wurde Otto gefunden. „Ich war am Boden zerstört! Denn Bauchspeicheldrüsenkrebs ist der Teufel!“ Ein Teufel, der sich leise eingeschlichen hatte. Annette Polan-Efker hatte keine eindeutigen Symptome. Zwar immer Rückenschmerzen, aber die schob sie auf die Arbeit. Auch die schnellere Erschöpfung. „Ich brauchte das Wochenende zum Erholen, aber wenn du selbstständig bist, dann machst du immer weiter.“ Es folgten zwölf Chemos und im Februar 2023 wurde ihr der Bauchspeicheldrüsenkopf entfernt. „Aufgrund dessen bin ich Diabetikerin geworden. Das ging dann ein halbes Jahr gut und dann haben sich Rezidive gebildet. An der Bauchspeicheldrüse und in der Lunge. Im Dezember 2023 wurde ich dann an der Lunge operiert, aber die Metastasen waren im Februar eigentlich wieder da und jetzt bekomme ich regelmäßig jede Woche eine Chemo.“ Otto ist nicht mehr heilbar, nicht operabel. „Es war von Anfang an klar: Otto zahlt keine Miete, Otto muss raus! Aber dass er Geschwister hatte, die sich vorher schon abgesetzt hatten, das konnte ich doch nicht ahnen! Am Anfang habe ich alles weggeschoben. Denn manchmal sind es ja auch die Gedanken, die dich krank machen – und die lasse ich einfach nicht zu“, sagt Annette Polan-Efker mit Nachdruck. „Außerdem gibt es einen Satz, der mich schon mein ganzes Leben lang begleitet und an den halte ich mich: Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Sie zeigt Otto, wer die Chefin ist. Und deswegen arbeitet sie auch weiter. „Ich vertrage die Chemo ganz gut, bin weiter selbständig und habe meinen Laden mit einer Angestellten weiterhin geöffnet. Ich liebe mein Geschäft, ich liebe meinen Job – das ist neben meiner Familie das Größte! Und durch die Arbeit habe ich auch nicht so viel Zeit, in meinen Körper hineinzuhören.“ Ansonsten genießt Annette Polan-Efker das Leben von Tag zu Tag – und sie erfüllt sich Wünsche und macht Pläne. Eine Alpakawanderung hat sie gemacht, einen Pool haben sie gebaut und im Winter will sie wieder auf ihre Lieblingsinsel Norderney. Doch selbst ihre Krankenhausaufenthalte konnte sie positiv umdenken. „Immer wenn ich meine Tasche fürs Krankenhaus gepackt habe, habe ich gesagt: Ich fahre ins Wellnesshotel! Dort kann ich Fernsehen gucken, bekomme Essen, keiner nervt mich und alle springen, wenn ich etwas brauche. Und auch die anderen kranken Menschen können einem ja etwas geben, die da schon seit Jahren mit Bauchspeicheldrüsenkrebs zur Chemo kommen.“ Und auch Annette Polan-­Efker möchte anderen kranken Menschen etwas geben. „Ich stelle mich und meinen Körper der Forschung zur Verfügung. Weil ich möchte, dass sie vorankommen in der Forschung beim Bauchspeicheldrüsenkrebs. Und selbst wenn es mir nicht mehr hilft, dafür aber Anderen, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung.“ Doch selbst, wer so sehr in sich ruht wie sie, hat manchmal Momente des Zweifelns – aber natürlich verwandelt Annette Polan-Efker auch diese negativen Gedanken sofort wieder in eine schöne Vision: „Eigentlich bin ich gläubig, aber manchmal hadere ich auch damit: Weil ich denke, warum erkranken junge Menschen, warum bin ich krank geworden? Und gleichzeitig gibt es alte Menschen, die schon lange nicht mehr wollen oder können und die dennoch bleiben dürfen. Ich suche auch das Gespräch mit Gott und manchmal schimpfe ich auch auf ihn. Ich weiß nicht, ob nach dem Leben was kommt – aber da bisher keiner zurückgekommen ist, gehe ich davon aus, dass es da oben ganz nett ist.“


„Nach der Hochzeit waren wir ein Team und der Krebs konnte sich warm anziehen“

Christiane Rademacher, 57 Jahre
Diagnose Eierstockkrebs

Foto: Reto Klar

Bitte nicht stören! Private Veranstaltung!“ stand auf einem Schild vor dem schmucklosen Aufenthaltsraum des Krankenhauses. In dem Raum standen Christiane Rademacher, ihr Lebensgefährte Ralf und ein Standesbeamter. Die 57-jährige Synchron-Autorin und Regisseurin sagte an diesem 30. Mai 2023 Ja zu ihrem Mann – und zum Leben. Ihre Diagnose: Eierstockkrebs, der sich bereits in der Bauchhöhle ausgebreitet hat. Die Prognosen schlecht und die Zukunft unklar. Umso wichtiger war dieses Ja zueinander.

„Das hat mir so viel Kraft und Mut gegeben. Ich habe gedacht: Wir sind jetzt ein Team und ich bin es Ralf schuldig, zu fighten. Der Krebs kann sich warm anziehen.“ Ihren ersten Hochzeitstag haben die beiden in Frankreich verbracht. Der Weg bis zu diesen Flitterwochen aber war schwer. „Im Februar und März 2023 nahmen wir uns eine Auszeit, waren auf Bali und den Nachbarinseln zum Tauchen. Und schon dort ging es mir gar nicht gut. Mein Bauch wurde immer größer.“ Christiane Rademacher ging auf Bali ins Krankenhaus. Ein Ultraschall ergab Wasser in der Bauchhöhle. Die Ärzte waren alarmiert und wollten weitere Untersuchungen machen. „Sie gaben mir was zum Entwässern, sagten mir aber, dass ich sofort zum Arzt müsste.“ Noch vor Ort machte sie einen Termin mit ihrer Hausärztin aus. Sonntagabends landete das Paar in ihrer Heimat Hamburg, Dienstagfrüh war der Termin. „Da hatte ich dann schon Wasser in der Lunge. Ich wurde sofort ins UKE geschickt.“ Ultraschall, MRT, CT – in der Uniklinik wurde nichts gefunden. Wegen ihres Aufenthalts in Indonesien kam Christiane Rademacher kurzzeitig auf die Station für Tropenmedizin. Da sie schlecht Luft bekam, wurde ihre Lunge punktiert. „Und in diesem Lungenwasser haben sie dann Tumorzellen gynäkologischen Ursprungs gefunden. Eierstockkrebs ist ein echter Arschlochkrebs! Die Urspungskarzinome sind oft sehr klein, aber mega aggressiv.“ Dennoch blieben sechs furchtbare Wochen Wartezeit bis zum angesetzten OP-Termin. Bis dahin passierte viel: Notarzt, Klinik, Magensonde. Der Termin aber blieb. „Das war so krass, ich habe da emotional heute keinen Zugriff mehr drauf. Da hat die Seele Stopp gesagt.“ Dann, am 9. Mai 2023, endlich der Tag der OP. „Ich war so zuversichtlich und dann ging die eigentliche Hölle los!“ Als Christiane Rademacher aus der Narkose erwachte, hatte sie einen künstlichen Darmausgang. „Und die Ärztin stand vor mir und sagte: Operativ konnten wir nichts für Sie tun! Es ist alles so verwachsen und ausgebreitet. Das Stoma haben wir gelegt, um den Darm zu entlasten. Wir müssen jetzt erst mal Chemo machen und darauf setzen, dass die was bringt ... Bäääähm!!! Ich dachte: Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“ Zwei Wochen blieb sie in der Klinik, das Stoma funktionierte nicht gut, sie nahm rasend schnell ab und wurde trotzdem entlassen. Zwei Tage später war sie zurück: Nierenversagen. Das Stoma hatte zu viel Flüssigkeit und Elektrolyte ausgeschieden. „Ich hab immer gesagt, der Darmausgang bringt mich eher um als der Krebs.“ Christiane Rademacher wurde nun künstlich ernährt. Und war unendlich schwach. Dabei sollte doch in ein paar Tagen geheiratet werden. Ihr heutiger Mann hatte ihr den Antrag kurz nach der Diagnose gemacht. „Eigentlich wollte er nie wieder heiraten. Ich habe immer gesagt, ich möchte wenigstens einmal gefragt werden – ich würde auch nein sagen, das war unser running gag. Aber er sagte: Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Doch der Termin war nicht zu halten – Christiane Rademacher ging es zu schlecht. „Ralf rief im Standesamt an und sagte, wir müssen verschieben, die Braut ist zu schwach. Und dann sagten die: Wenn die Braut nicht zu uns kommen kann, dann kommen wir zur Braut!“ Krankenschwestern besorgten ihr einen Brautstrauß, einige weinten. So etwas erlebt auch eine Krebsstation nicht alle Tage. Dann begann die Chemo. Nach neun Chemos war die nächste OP angesetzt, dann sollten neun weitere Chemos folgen. Die zweite OP war für alle eine Wundertüte: Hatte die Chemo etwas bewirkt? Und wieder stand die Ärztin an ihrem Bett – diesmal mit einem Strahlen im Gesicht: „Wir konnten alles entfernen!“ Auch das Stoma. Christiane Rademacher genießt seitdem eine neue Form von Gelassenheit. Ja, die Rezidivrate bei ihrem Krebs ist hoch, die Prognosen oft nicht gut. Aber wie gesagt: Christiane Rademacher ist gelassen: „Ich fühle mich wie Siegfried, der in Drachenblut gebadet hat. Beinahe unverwundbar.“


„Zeit ist jetzt nur noch zum Genießen da“

Claus Bruckert, 58 Jahre
Diagnose Metastasierter Prostatakrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Wenn Claus Bruckert die Aufnahmen von seinem Ganzkörper-Knochenszintigramm zeigt, dann ahnt wohl auch Jede und Jeder mit ungeübtem Medizinerblick, dass all diese schwarzen Punkte, die da in der Wirbelsäule, dem Becken- und Brustkorbbereich zu sehen sind, nichts Gutes heißen können. „Ich sage immer zu Freunden und Bekannten: Für jeden schwarzen Punkt einen Euro, dann könnten meine Frau Petra und ich in einem guten Restaurant essen gehen“, sagt Claus Bruckert. Jeder schwarze Punkt im Körper von Claus Bruckert ist eine Metastase.

Aber der 58-jährige Qualitäts- und Umweltmanager aus Hemer in Nordrhein-Westfalen ist eine absolute Kämpfernatur und bietet dem Krebs die Stirn. Bei seinem Urologen hat er schon den Titel „Selbermacher“ – weil er alles in die Hand nimmt, organisiert und erforscht, was in seiner Situation nötig und möglich ist. Dabei standen die Prognosen im Februar 2022 nicht gut, als nach einer Prostatauntersuchung sein PSA-Wert bei 22,5 lag – und nicht bei 4, wie es für einen Mann in seinem Alter normal gewesen wäre. „Ich bin damals nicht zum Arzt gegangen, um den Krebs feststellen zu lassen, sondern weil ich seit November 2021 eine Dreifachbelastung bei der Arbeit hatte. Ich hatte mehrere Nächte nicht geschlafen und bekam die Diagnose depressive Episode.“ Und so ganz nebenbei fragte sein Hausarzt den damals 56-Jährigen, ob er eigentlich schon einmal seine Prostata untersuchen lassen hatte. „Ich meinte noch: Nein, will ich auch nicht. Aber mein Arzt sagte: Machen wir aber – und schickte mich bei dem PSA-Wert gleich weiter zum Urologen. Es war eigentlich klar, dass das Krebs sein musste. Deswegen war mein Motto gleich: Hallo Krebs, ich heiße Claus. Wir leben jetzt zusammen.“ Die Stanzbiopsie beim Urologen bestätigte den Verdacht. „Wir sind nicht in Tränen ausgebrochen, sondern dachten uns: C’est la vie! Damals sind ja alle davon ausgegangen, dass es zwar Prostatakrebs ist, aber nicht schlimm.“ Trotzdem wurde ein Ganzkörper-Knochenszintigramm gemacht – und all die schwarzen Punkte kamen zum Vorschein. Das gesamte Skelett voller Metastasen. „Das hat mir dann den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Claus Bruckert. Um dann mit seiner sonoren, festen Stimme fortzufahren: „Aber nur kurz – weil Kopf in den Sand stecken nichts bringt, denn so viel Sand haben wir nicht.“ Laut Patientenleitfaden hätte keine OP mehr stattfinden sollen. Aber diese Aussage ließ der „Selbermacher“ nicht auf sich beruhen. „Ich habe durch längeres Forschen herausgefunden, wo ich doch noch operiert werden kann. Und ein Professor in München sagte: Ich operiere Sie! Egal, was in dem Patientenleitfaden steht. Damit war ich also eigentlich auf der guten Seite – und bin es auch immer noch“, sagt Claus Bruckert. Im August 2022 war die OP des Tumors. Der Krebs ist also raus. Was nicht mehr weggehen wird, sind die Metastasen. „Ich bekomme nun eine Hormonentzugstherapie. Da die Metastasen sich von Testosteron ernähren, bekomme ich alle drei Monate eine Spritze, dass die Testosteronproduktion eingestellt wird. Dadurch werden die Metastasen in einen Schlaf versetzt.“ Das heißt: Die schwarzen Punkte sind da, aber sie geben Ruhe. Zusätzliche Knochenaufbauspritzen und Calciumtabletten helfen, die Knochen zu stärken. Denn natürlich weiß niemand, wie lange die Therapie weiter so gut funktioniert. „Meine Therapie ist außerdem, dass ich ganz offen und ehrlich mit jedem darüber spreche. Der Krebs ist jetzt ein ungeliebtes Familienmitglied, das ich eigentlich nicht eingeladen habe, das sich aber hier bei mir eingenistet hat. Den werde ich nicht wieder los. Aber wir probieren weiter, machen und tun – denn ich will die Zeit, die ich noch gut und gesund habe, genießen. Jetzt! Zeit ist nur noch zum Genießen da“, sagt Claus Bruckert. Da haben sich seine Prioritäten verschoben. „Und auch Freunde habe ich neu eingestuft. Denn auch da schließen sich Türen und es öffnen sich ganz andere, mit denen man gar nicht gerechnet hatte.“ Durch die Prostata-Operation hat Claus Bruckert heute noch mit Inkontinenz zu tun. Das nervt ihn ein bisschen, wie er sagt. Und Sexualität ist durch diese leichte Inkontinenz und durch die Testosteronspritzen kein Thema bei Claus Bruckert und seiner Frau Petra. Das stört die beiden aber nicht, auch da verschieben sich Prioritäten. Denn das Paar hat etwas anderes im Kopf, ein wichtigeres Thema: Das Überleben. Denn eins ist für den „Selbermacher“ natürlich ganz klar: „Kollege Krebs wird mich nicht besiegen!“


„Nee, Helga Brietzke! Du lässt dich nicht unterkriegen!“

Helga Brietzke, 83 Jahre
Diagnose Brustkrebs und Marginalzonenlymphom

Foto: Reto Klar

Muss das wirklich sein? Warum muss ich so etwas in meinem Alter noch kriegen?“ Helga Brietzke wurde 1941 in Neuenburg in Friesland geboren, sie ist heute 83 Jahre alt. Im Sommer 2023 bekam sie die Diagnose Marginalzonenlymphom. Es war ihre zweite Krebsdiagnose – nach 40 Jahren, in denen sie „gut gelebt“ hat. 1981 war die gelernte Arzthelferin an Brustkrebs erkrankt. Damals war ihr Sohn sechs Jahre alt.

„Ich hatte eine Amputation und danach Bestrahlung“, sagt Helga Brietzke. „Krebs war damals noch viel mehr tabuisiert als heute, damit wollte niemand etwas zu tun haben. Mein Mann hat nicht darüber gesprochen, die Familie auch nicht. Und als ich operiert war und die Kur gemacht hatte, hieß es: So, der Krebs ist weg – damit war das Thema durch.“ Aber für Helga Brietzke nicht. Es ging ihr nicht gut. Ihre Mutter war mit 54 Jahren an Brustkrebs gestorben. „Aber die Oberärztin auf der Frauenstation im Krankenhaus, in dem ich war, die war ganz fantastisch und hat gemerkt, dass es mir nicht gut ging. Sie hat zu mir gesagt: Wenn Sie Probleme haben, dann kommen sie zu mir.“ Helga Brietzke arbeitete im Hospital zum Heiligen Geist in Hamburg, der Stadt, in der sie inzwischen lebte, und sie bekam viel Unterstützung – mehr als zu Hause. Das gab ihr Kraft – die sie fortan weitergeben wollte. Sie gründete 1983 in Hamburg-Poppenbüttel die erste Selbsthilfegruppe für Frauen mit einer Brustkrebsdiagnose. „Ich habe dadurch und durch die Krankheit sehr viel Selbstständigkeit und Stärke erlangt. Das war für mein Leben eine große, positive Umstellung. Aber mein Mann ist damit leider nicht klargekommen.“ 1996 trennte sich das Ehepaar. Helga Brietzke setzte sich rund 20 Jahre für das Thema Selbsthilfe ein, organisierte Schulungen, Seminare und Ernährungsberatungen und arbeitete eng mit der Deutschen Krebshilfe zusammen. Und sie schrieb ein Buch, gemeinsam mit dem Arzt Professor Christian Lindner: „Ich hatte Brustkrebs und viele Fragen danach …“ Eine starke, selbstständige und engagierte Frau. Und nun, mit 83 Jahren, kam der Krebs wieder zu ihr. Sie bemerkte eine Beule am Kopf, war unsicher, wo die herkam. Vielleicht irgendwo gestoßen? Es kamen Schmerzen in Rücken und Armen dazu, Überweisungen, ein wenig ratloses Hin und Her. Und dann, an einem Tag im Sommer 2023, Helga Brietzke fuhr gerade mit dem Bus nach Hause, bekam sie einen epileptischen Anfall. Sie kam ins Krankenhaus, blieb fünf Wochen und bekam die Diagnose Marginalzonenlymphom. Im Rückenmark wurde eine Metastase festgestellt, der Tumor am Kopf war sehr ungewöhnlich für die Diagnose. „Ich habe mich gefragt: Warum muss ich so alt werden und noch so etwas kriegen? Warum muss mir das passieren? Ich habe auch geheult und war in einem Wechselbad der Gefühle: Immer zwischen „Ich will das schaffen“ und „Das ist doch alles Mist“. Aber irgendwann habe ich mir gesagt: Nee, Helga Brietzke! Du lässt dich nicht unterkriegen! Du kämpfst, selbst wenn sie dir sagen, dass es nur bedingt heilbar ist.“ Die Chemo hat Helga Brietzke gut überstanden. „Da kam mir auch zugute, dass ich durch die Selbsthilfegruppe viel an Erfahrung und Wissen gesammelt hatte.“ Im Moment steht die Frage nach einer Bestrahlung des Kopfes im Raum. Helga Brietzke hat auch diesmal wieder ihren Weg gefunden, mit dem Krebs umzugehen. Noch immer arbeitet sie ehrenamtlich im Hospital zum Heiligen Geist, leitet dort die Bibliothek. Und auch ansonsten weiß sie sich zu beschäftigen: „Ich gehe gern spazieren, gehe gern auf Flohmärkte, habe einen Stand und verkaufe Bücher. Ich will die Jahre, die ich noch habe, einfach gut leben. Ich will Jazzkonzerte erleben, keinen Streit haben. Hätte ich ein bisschen Geld, dann würde ich nach New York oder San Francisco fliegen – ach, einmal noch New York sehen! Oder auf ein Konzert von Elton John gehen.“ Musik von Elton John, Tina Turner und Peter Maffay soll auch auf ihrer Beerdigung gespielt werden. „Aber mein Tod steht nur draußen an der Tür und klopft. Aber ich bin über die Brücke gegangen, die mich auf die gute Seite gebracht hat, wo mich jemand an die Hand genommen und gesagt hat: Wir schaffen das!“ Dafür hätte sie gern auch einen Partner gehabt. „Das ist eigentlich das Einzige, was mich traurig macht, dass ich niemanden hatte, der an meiner Seite war und ist. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen und habe auch keine Angst vor dem Tod – ich finde nur schade, dass ich dann nicht mehr mitbekomme, wie alles weitergeht.“


„Es fühlt sich an, als hätte jemand mit dem Hammer auf mein Leben geschlagen“

Marie Theurer, 40 Jahre
Diagnose nicht-kleinzelliger Lungenkrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Das, was Marie Theurer widerfahren ist, nennt sie selbst den „Sechser im Pech-Lotto.“ Die studierte Literaturwissenschaftlerin und Yoga-Lehrerin aus Berlin hat Lungenkrebs. Doch bis zu dieser Diagnose ist vieles schief gegangen, bis hin zu einem Fehlbefund im MRT. Heute sitzt Marie Theurer querschnittgelähmt im Rollstuhl. Und kämpft hart darum und mit sich, in diesem Leben bestehen zu können. Und es auch zu wollen. „Das wo ich hinkommen kann, das ist nur noch ein Kompromiss aus diesen Scherben, die da sind. Es fühlt sich an, als hätte jemand mit dem Hammer auf mein Leben geschlagen.“

Im Sommer 2022 hatte die sportliche junge Frau starke Rückenschmerzen. Es war Corona, Marie Theurer hatte eine schmerzhafte Trennung hinter sich und früher schon mit Depressionen zu kämpfen. Schnell wurden psychosomatische Diagnosen gestellt. Bewegung und Geduld – das wird wieder. „Ich bekam Physio, ging zu vielen Orthopäden und bekam letztlich ein MRT – das sehr schicksalhaft war, denn dabei wurde eine Veränderung in der Lunge übersehen. Ich bekam also einen unauffälligen Befund. „Diesen Befund hatte ich ab da natürlich bei allen Arztbesuchen dabei, und so wurde nicht mehr nach der Ursache der Schmerzen gesucht, so sehr ich auch rüttelte. Denn da stand ja bereits schwarz auf weiß, dass organisch alles in Ordnung sei.“ Zehn Monate und etliche vergebliche Arztbesuche später, im Juni 2023, humpelte Marie Theurer in die Notaufnahme. Die Diagnose: Rückenmarkstumor, Not-OP. Zu dem Schock die Erleichterung über eine Erklärung für die Schmerzen. Die OP war lang und kompliziert, die Risiken weitreichend. Schon damals stellte Marie Theurer sich die Frage: „Würde ich aufwachen wollen, wenn ich querschnittgelähmt wäre?“ Die OP verlief gut. Aber dann war klar: Der Rückenmarkstumor war eine Metastase, der Primarius saß in der Lunge. „Aber ich hatte nie so Angst vor dem Krebs. Ich war einfach unglaublich froh, dass ich laufen konnte. Ich hatte nur leichte Lähmungserscheinungen, brauchte einen Rollator, war aber einfach happy, als ich nach Hause kam.“ Erst einmal durchatmen und die Entscheidungen der Tumor-Konferenz für die weitere Krebs-Therapie abwarten. Nach einem schönen Wochenende, das Marie Theurer mit Familie und Freunden genoss, bekam sie in der Nacht zu Montag Schmerzen. Und auch die Lähmungserscheinungen verstärkten sich. Es ging also wieder in die Notaufnahme – wieder eine Not-OP. Der Tumor war stark gewachsen, lag nun um und im Rückenmark. Als Marie Theurer aus der Narkose erwachte, war sie ab oberhalb der Brust gelähmt. „Von da an ist der Krebs für mich total in den Hintergrund getreten, dazu ist eine Lähmung viel zu dominant. Von dem Krebs hatte ich schnell ein Bild: Ein eingerolltes Gürteltier, das da in meiner Lunge liegt und ich dachte, ich schaffe das schon, mich mit dem anzufreunden. Ich hatte keine Angst vor dem Krebs, ich war lebensmutig.“ Und tatsächlich: Es stellte sich heraus, dass Marie Theurer eine seltene Krebsmutation hat, die gut auf zielgerichtete Therapie anspricht und den Betroffenen einige Jahre an Lebensprognose schenkt. Doch die Lähmung raubte ihr schnell jede Zuversicht, Freude und Hoffnung. „Den eigenen Körper zu sehen, aber nicht zu spüren, ist erschütternd. Für mich ist das ein fieser, ironischer Plot, den das Universum sich ausgedacht hat: Wenn wir ihr das wegnehmen, woran sie sich immer am meisten festgehalten hat – lass mal gucken, was dann passiert.“ Yoga war ihr Lebensinhalt, das Einfühlen und Arbeiten mit dem eigenen Körper gab ihr Stabilität. „Die Lähmung hat mir den Boden weggerissen und das ist auch immer noch so. Ich weiß, es gibt Menschen, die können damit ein glückliches Leben führen. Und ich weiß, viele Krebserkrankte wären dankbar über meine Form von Medikation und Aussichten. Aber ich bin nicht okay damit, dass ich die Jahre, die ich dadurch geschenkt bekommen habe, so verbringen muss. Für mich ist das der Worst-Case-Albtraum.“ Jeder Tag ein Spagat zwischen der Stimme in ihrem Kopf, die aufhören will und der Stimme, die weitermachen möchte. „Was auch mit meiner Familie abgesprochen ist, ist zu schauen, was ich noch aufbauen kann, um möglichst viele schöne Momente zu haben. Aber wie lange das dann alles geht, das ist meine eigene Entscheidung.“


„Es gibt immer Wunder - und das Wunder bin ich“

Nicole Keßler, 32 Jahre
Diagnosen

Foto: Reto Klar

Es war der 2. Oktober 2023 und für Nicole Keßler fing der Tag schon komisch an. Da sie vergessen hatte, dass der Kindergarten geschlossen hatte, musste die Großhandelskauffrau schnell ihre beiden Töchter (fünf und zwei Jahre alt) zu ihrer Oma bringen. Auf der Arbeit ging dann auch etwas schief – kurzum: Die 32-jährige Dresdnerin, die heute mit ihrem Freund und den Kindern in Moritzburg lebt, war gestresst. Nachmittags wollte sie bei ihren Eltern im Garten entspannen, den schönen Spätsommertag mit der Familie genießen. „Plötzlich dachte ich, mich trifft ein Blitz.“

„Die ganze linke Seite kribbelte, ich dachte, ich habe einen Stromschlag bekommen. Die anderen dachten, mich hätte eine Wespe gestochen. Aber mein Schwager war auch da und der ist bei der Feuerwehr und außerdem Rettungssanitäter. Er hat sofort reagiert, mich weggezogen und mir gleich all die Fragen im Falle eines Schlaganfalls gestellt. Bis zum Krankenwagen erinnere ich mich an alles. Aber im Wagen bekam ich dann einen epileptischen Krampfanfall und seitdem weiß ich gar nichts mehr.“ Gegen Mitternacht wachte Nicole Keßler auf der Intensivstation auf. Sie war alleine und dachte: „Tja, Nicole, jetzt hast du deinen Burnout gekriegt, war ja nur eine Frage der Zeit.“ Sie hat viel gearbeitet, das Paar baute gerade ein Haus, dazu zwei kleine Kinder. „Dann kam mein Freund, wir haben gesprochen, er wusste aber auch nichts – dann reißt meine Erinnerung wieder ab.“ Als sie das nächste Mal wach wurde, war es morgens und in ihrem Zimmer stand ein Haufen Ärzte. „Ich dachte nur: Bitte, bitte, bitte nur gute Nachrichten – oder einfach nur: Das war jetzt mal ein Dämpfer.“ Leider sagten die Ärzte etwas anderes. Der Hirntumor in Nicole Keßlers Kopf war pfirsichgroß. „Ich dachte, ich bin im Film oder ich träume, das war total unrealistisch. Ich hatte tausend Fragen und dachte nur: Ist das jetzt euer Ernst? Ich habe einen Hirntumor? Ich habe doch zwei kleine Kinder! Und ich bin ein sehr sportlicher Mensch, trinke keinen Alkohol, rauche nicht. Es gibt doch gar keinen Anlass für einen Tumor.“ Auch Symptome gab es nicht wirklich. Keinen Schwindel, keine Sehstörungen oder Kopfschmerzen. „Manchmal hatte ich ein bisschen Nackenschmerzen und beim Vorbeugen einen Druck im Kopf.“ Die nächsten Tage verschwimmen in Nicole Keßlers Erinnerung. „Ich glaube, ich stand auch viel unter Beruhigungsmitteln.“ Eine Woche später war die achtstündige OP. Alles lief gut, es wurden keine Hirnareale verletzt, Nicole Keßler bestand alle Funktionstests. „Ich soll geredet haben, etwas aufgesagt haben – ich weiß das alles nicht mehr. Ich bin nach der OP wohl auch herumgelaufen, Freunde haben mich besucht – ich erinnere mich daran nicht.“ Der Tumor konnte zu 80 Prozent entfernt werden. Lange acht Wochen später kam der Befund: Astrozytom, Grad 3, unheilbar und bösartig. Die junge Mutter, die ganze Familie war am Boden zerstört. Von Oktober bis Januar wurde der Kopf bestrahlt, 30 Einheiten. „Dann sind wir nach Dubai geflogen. Familienurlaub. Danach fing meine Chemotherapie an, die ich in Tablettenform bekomme für 12 Zyklen.“ Nicole Keßler ist unglaublich umtriebig, informiert sich über alternative Behandlungsmethoden und probiert alles aus, was einen positiven Effekt auf ihren Körper haben kann. Ketogene Ernährung, Chinesische Heilmedizin, Akupunktur. Der Haupttumor in ihrem Kopf war im letzten MRT nicht mehr zu sehen. „Dafür wurde im März leider etwas Neues gefunden, auf der anderen Seite. Das ist aber auch um die Hälfte kleiner geworden.“ Die zwei kleinen Töchter verstehen nicht wirklich, was mit ihrer Mama ist. „Meine Kinder sind meine ganze Energie, aber sie kosten mich natürlich auch Energie – und wenn mich das an meine Grenzen bringt und ich dann nicht mehr kann, dann werde ich so ­sauer auf mich. Dann sage ich mir: Du musst das doch genießen, musst alles aufsaugen und wertschätzen. Aber das kann ich kräftemäßig oft einfach nicht.“ Aber aufgeben wird Nicole Keßler niemals: „Ich habe noch so viel vor in meinem Leben. Ich will meinen Freund heiraten, meine Kinder groß werden sehen und ich will unbedingt Oma werden. Außerdem möchte ich einen Girls-Club eröffnen, mit dem wir anderen ­Menschen helfen, uns untereinander supporten als Frauen und netzwerken. Ich liebe mein Leben und der Tod kommt für mich nicht in Frage. Und deswegen ist mein Motto: Es gibt immer Wunder – und das Wunder bin ich!“


„Wer ein Stoma sexy findet, der sollte auf keinen Fall zur Darmkrebsvorsorge gehen“

Peter Srodka, 81 Jahre
Diagnose Tumor am Schließmuskel (Analkarzinom)

Foto: Reto Klar

Seit 58 Jahren sind Rita und Peter Srodka verheiratet. Sie sind eine Einheit und erzählen gemeinsam von der Zeit im Jahr 2017, als eine Vorsorgeuntersuchung anders lief als erwartet. „Mein Name ist Peter Srodka, 81 Jahre alt aus dem Ruhrgebiet. Ich habe lange Jahre als Berufsberater im Arbeitsamt Olpe gearbeitet – und ich bin verspätet zur Darmspiegelung gegangen“, sagt der Bochumer ohne Umschweife in seiner Vorstellung. Im Alter von 75 Jahren ist er auf Drängen seiner Frau gegangen, nicht weil er Probleme hatte. „Ich dachte, als aktiver Sportler wäre ich unbesiegbar. Aber das ist leider nicht so gewesen.“

Guter Dinge war er zur Untersuchung gegangen, warum auch nicht? Dann überschlugen sich die Ereignisse: Es wurde ein Tumor am Schließmuskel gefunden, ein Abstrich entnommen und auf eine schnelle, minimalinvasive OP gedrängt. Was aber folgte war ein schwerer Eingriff mit mehreren Schnitten und als Peter Srodka aus der Narkose erwachte, hatte er ein Dünndarm- und ein Dickdarmstoma. „Und eigentlich wurde mir sofort gesagt, dass ich die mein Leben lang behalte. Da war die Anspannung natürlich extrem und die Frage in meinem Kopf: Kann ich das alles bewältigen? Auch mit der richtigen Versorgung?“ Sieben Wochen blieb Peter Srodka im Krankenhaus, es gab viele Probleme. „Immer wieder war was undicht, der Bauchraum lief voll, er bekam viele Schmerzmittel und musste immer wieder auf die Intensivstation“, sagt Rita Srodka. Und ihr Mann ergänzt mit Ruhrpottwitz: „Aber ich hab auf der Intensivstation auch immer wieder Fußball geguckt, das darf man nicht vergessen!“ Dann, noch im Krankenhaus, hatte Peter Srodka ein „Erweckungserlebnis“, wie er es nennt. „Da kam die Renate vom Besucherdienst am Darmkrebszentrum in Olpe zu mir, die schon dreißig Jahre mit einem ­Stoma lebt. Als sie ins Zimmer trat und da war, wurde mir klar – damit kann man leben!“ Heute ist Peter Srodka Mitglied der Selbsthilfegruppe der Deutschen ILCO (Vereinigung Stomaträger und Darmkrebsbetroffener) und engagiert sich seit 2018 zudem beim Besucherdienst am Darmkrebszentrum in Olpe für Betroffene – so gibt er sein „Erweckungserlebnis“ an andere weiter. „Freitags bekomme ich eine Liste aus dem Krankenhaus, wer operiert wurde und am Montag gehe ich ins Krankenhaus und spreche mit den neuen Stoma-Patienten“, sagt Peter Srodka. „Meist dreht es sich um Fragen zur richtigen Versorgung.“ Der künstliche Darmausgang ist ein Tabu in der Gesellschaft und das möchte Peter Srodka ändern. „Ich möchte das durchbrechen, erzähle deshalb jedem von meinem Stoma – auch, weil ich dadurch die Menschen nur zur Vorsorge bekomme. Oder ich drehe die Sache um und sage: Wer ein Stoma sexy findet, der sollte auf keinen Fall zur Darmkrebsvorsorge gehen.“ Viele Stoma werden irgendwann zurückverlegt – bei Peter Srodka aber blieb der eine. „Heute bin ich im Gleichgewicht und kann das gut ertragen. Ich habe meinen Darm inzwischen erzogen. Um acht Uhr gibt es Frühstück, um 13 Uhr Mittag und abends um 18 Uhr die letzte Mahlzeit. Bevor ich ins Bett gehe, wechsel ich den Beutel dann kann man ruhiger schlafen. Morgens wird der Beutel wieder gewechselt, man braucht eben Routine. Und ja, ich kann nicht alles essen und zwar bin ich immer noch viel in Bewegung und sportlich, aber vieles geht eben auch nicht mehr.“ Aber als Familie kommen sie damit klar, auch als Paar und auch Sexualität ist noch immer ein Thema – und auch das ein Tabu in der Gesellschaft. „Ich kann sagen, meine Frau hat noch einen rüstigen Rentner“, sagt Peter Srodka. „Da bin ich vollkommen frei von Schamgefühl. Das hat natürlich auch was mit meinem Alter zu tun. Man darf ja auch nicht vergessen, wie alt wir sind! Klar wollen wir noch ein paar Jahre leben, aber wir haben unser Leben ja auch gelebt.“ „Das stimmt“, sagt Rita Srodka und ergänzt: „Natürlich hatte ich anfangs Angst, meinen Mann zu verlieren. Aber mit dem Saubermachen oder dem Stoma habe ich keine Probleme! Bei uns gilt: Was gemacht werden muss, das wird gemacht! Ich hatte immer Hoffnung und war nie pessimistisch. Ich habe mir gedacht: Wenn das Schlimmste wirklich kommt – warum soll ich dann vorher meine Kräfte schon aufbrauchen? Wir gehen das einfach an und wollen das Beste hoffen.“ das Wunder bin ich!“


„Optimisten und Pessimisten haben beide die gleichen Probleme - aber der Optimist hat mehr Spaß dabei!“

Rainer Janz, 64 Jahre
Diagnose metastasierter Prostatakrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Genauso, wie er sein Fahrrad lässig über die Schulter schmeißt, packt er sein Leben an. Und strotzt dabei aus jeder Pore vor Optimismus. Rainer Janz bekam Ende November 2014 – da war er Anfang 50 – die Diagnose Prostatakrebs. Eine sehr aggressive Form, Kategorie 9 und 10. Schlimmer geht es eigentlich nicht. Am 23. Dezember wurde er operiert, „ich habe quasi zu Weihnachten ein neues Leben bekommen“, sagt der heute 64-jährige Detmolder, der seit 50 Jahren in Hamburg lebt.

Es folgten 36 Bestrahlungen, gegen eine Chemo entschied er sich gemeinsam mit seinem Urologen. „Wir haben stattdessen damals eine eher ungewöhnliche Therapie gemacht, mit einem Rezeptorenblocker, der die Krebszellen blind macht gegen Testosteron, wovon der Prostatakrebs sich ja ernährt.“ Bis zum Mai 2017 ging alles gut – dann fing der PSA-Wert, das prostataspezifische Antigen, wieder an zu steigen. „Ich bin nach Berlin für ein PET/CT, um Testosteronansammlungen im Körper zu messen. Da stellte sich heraus, dass ich Metastasen habe – drei Knochen- und drei Lymphknotenmetastasen. Der Krebs war also leider systemisch geworden, seitdem gelte ich als Palliativpatient. Werde nur noch lebensverlängernd behandelt, nicht mehr lebenserhaltend“, sagt Rainer Janz. Er begann eine neue Medikamententherapie, deren durchschnittliche Wirkdauer zwei bis vier Jahre beträgt. „Ich bin jetzt im siebten Jahr. Mein Urologe sagt, ich bin ein kleines Wunder.“ Ein Wunder, das für Rainer Janz auch an einer Kombination aus klassischer Schulmedizin, anthroposophischer Medizin und homöopathischer Unterstützung liegt. „Ich nutze einige nicht-schulmedizinische Unterstützungsmaßnahmen, spritze mir Mistelextrakt, und habe eine wirklich sehr gute Alternativärztin, die eigentlich Schulmedizinerin ist. Dazu bin ich seit über 30 Jahren bei einer Heilpraktikerin. Sie hatte Anfang November 2014 eine Irisdiagnose gemacht und danach gesagt: Geh bitte dringend zum Urologen, da sieht etwas nicht gut aus.“ Zusätzlich nimmt der Groß- und Außenhandelskaufmann, der seit 40 Jahren mit seiner Frau Anke verheiratet ist, jeden Morgen „eine Hand voll Nahrungsergänzungsmittel. Dann habe ich eigentlich schon gefrühstückt“, sagt Rainer Janz und lacht. Natürlich tut er das. Es geht ihm ja auch gut. „Das alles führt dazu, dass ich eine recht gute Grundkonstitution habe, mich sehr wohl fühle und fast alles machen kann, was ich früher auch gemacht habe.“ „Ja, ich habe leichten Muskelabbau, meine Konstitution ist schlechter und ich habe eine rasante Menopause mit allen Höhen und Tiefen durchgemacht. Aber die damals ausgesprochene Prognose von etwa fünf Jahren habe ich schon deutlich überschritten und es gibt noch keine Signale, dass es schlechter werden würde. Alle drei Monate gehe ich zum Check und mein PSA-Wert ist unterhalb der Wahrnehmungsgrenze.“ Nach der Operation hat Rainer Janz noch sieben Jahre weitergearbeitet. Erst im Oktober 2021 ist er in Rente gegangen. „Ich bin von meinem Chef und dem gesamten Team super aufgefangen worden. Ich habe aber auch für mich etwas verändert und das meinem Chef auch ganz deutlich gesagt: Insgesamt habe ich mich entstresst und mich seitdem privat nicht mehr mit Sachen oder Menschen abgegeben, auf die ich keinen Bock hatte.“ Das hat er hinbekommen. Der begeisterte Radsportler, eine Leidenschaft, zu der ihn sein Sohn brachte, legte sich 2019 ein Wohnmobil zu. „Seitdem reisen meine Frau und ich ohne Ende.“ Und auch das Fahrradfahren kommt nicht zu kurz: Im Keller hat Rainer Janz so einige Schätze stehen, schraubt und restauriert Räder. Und fährt natürlich. „Zehnmal bin ich die Cyclassics in Hamburg, dreimal den Velothon in Berlin gefahren – das schaffe ich heute in der Form leider nicht mehr. Aber in der Toskana bin ich 2021 und 2022 die Strade Bianche, das Eintagesrennen auf den weißen Schotterwegen durch die Weinberge gefahren. Jeweils die 50-Kilometer-Runde mit 700 Höhenmetern.“ Nicht nur der Optimismus, auch die Begeisterung sprudelt bei Rainer Janz bei diesen Erinnerungen aus jeder Pore. Er plant schon jetzt die nächsten Teilnahmen an Radrennen. „Ich bin eben ein Optimist. Denn Optimisten und Pessimisten haben doch beide die gleichen Probleme – aber der Optimist hat einfach mehr Spaß dabei!“


„Die Chemo ist ein Gift. Aber auf Englisch heißt Gift ja Geschenk“

Robin Lyn Gooch, 63 Jahre
Diagnose Eierstockkrebs

Foto: Reto Klar

Robin Lyn Gooch hatte diesen Traum. Sie trug einen grünen Hosenanzug und saß in einer Art Bar. Es gab einen Fahrstuhl dort, der war hell erleuchtet und im Jugendstil gebaut. Die Kunstepoche, die sie so sehr liebt. Als alle anderen um sie herum fort waren, dachte sie sich: So, nun bin ich dran. Sie nahm entspannt ihre Taschen, ging auf den Portier des Fahrstuhls zu. Der aber schaute sie an und sagte nur: „Nein, Du kannst nicht mitkommen. Du hast noch Taschen.“ Bei diesen Worten wachte die heute 63-jährige Berliner Sängerin und Schauspielerin auf.

Das war im Sommer 2015. Sie lag zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus, war gerade operiert worden und hatte die Diagnose Eierstockkrebs bekommen. Doch an den Traum von damals denkt sie bis heute – und auch an die Taschen: „Für mich bedeutet das, dass ich noch etwas zu erledigen habe.“ Geboren in Nashville/Tennessee, erwarb sie 1984 den Bachelor of Music und kam im Sommer desselben Jahres mit einem Gesangsstipendium nach Deutschland. Bereits an ihrem zweiten Tag lernte sie ihren heutigen Mann Martin kennen. Sie begann ein Studium an der Hochschule der Künste (heute UdK) und machte dort ihr Gesangs-Diplom. Ein weiteres Diplom in Musiktherapie schloss sich an. „Und dann kamen Schauspiel-Angebote aus dem Off-Theater-Bereich und eine Tür Richtung Film und Fernsehen öffnete sich auch.“ Zudem ist Robin Lyn Gooch Gesangspädagogin und seit 2002 Lehrbeauftragte für Stimm-Improvisation an der UdK. Die Frau mit der großen Stimme und der charmanten Zahnlücke hat also viel zu tun. Und so schiebt sie es auch auf den Stress, als sie im Juli 2015 Schwierigkeiten mit dem Essen bekam und wenig Appetit und Hunger hatte. „Ich hatte viel Unterricht gegeben, viele Projekte gleichzeitig und mein Mann war aus beruflichen Gründen nicht in Berlin. Ich dachte: Ich brauche Urlaub! Aber als mein Mann wieder kam, schaute er mich an und sagte: Irgendwas stimmt nicht! Wir sind dann zu seiner Hausärztin gegangen und sie hat einen Ultraschall gemacht – in dem sie etwas sah und mich zu einem Notdienst für gynäkologische Erkrankungen schickte.“ Im Krankenhaus kam dann die Diagnose. „Ich dachte: Das passiert nicht! Das passt gar nicht zu mir, keiner in der Familie hatte Eierstockkrebs. Eher Myome, da hatte auch ich schon einmal eine OP. Aber ich wollte Opernsängerin werden und auf die große Bühne. Mit Krebs wollte ich nichts zu tun haben und ich fühlte mich einfach nicht als diese Person, die Eierstockkrebs bekommt.“ Und so ging es auch lange weiter: OP, Port, Chemo – immer hatte Robin Lyn Gooch das Gefühl, dass das alles nicht für sie bestimmt ist. Doch die Krankheit wollte ihr offenbar auf die harte Tour das Gegenteil beweisen: Im Februar 2017 bekam sie ein Rezidiv. Ebenso im September 2017. Und auch im Jahr 2020. „In dieser ganzen Zeit habe ich dann gelernt, dass diese Krankheit wohl doch zu mir gehört. Und es ist ganz merkwürdig: Manchmal habe ich eine Beziehung zu dieser Krankheit, als ob sie meine Kreativität ausdrückt. So, als hätte ich sie nicht nur nach außen getragen, sondern auch nach drinnen. Wenn ich diese Krebszellen zu beschreiben versuche, dann ist das so, als hätten sie andere Zellen überredet, mitzumachen: Hey, willst du nicht mit mir etwas Anderes tun? Etwas Neues bauen? Zum Glück hat meine äußere Kreativität nicht gelitten – vielleicht war sie sogar zu viel und sie hat sich deshalb mehrere Wege gesucht, eben auch nach innen.“ Während all der Zeit, all den Chemos und all den Operationen, hat Musik ihr immer die nötige Kraft gegeben. Und ihre Freunde. „Meine Freunde haben mich immer aufgebaut, auch, wenn mein Mann beruflich unterwegs war. Sie haben mir Halt gegeben und gesagt: Wir schaffen das zusammen! Klar, ich hatte oft auch Zweifel, aber ich hatte auch meine Freunde! Und natürlich war die Chemo anstrengend, sie ist ja ein Gift. Aber auf englisch heißt gift Geschenk – es ist also irgendwie beides.“ Und deswegen versucht Robin Lyn mit der Krankheit zu kämpfen und nicht gegen sie. Und im Moment geht das gut. „Ich freue mich gerade sehr, dass ich fünf Jahre nichts hatte. Vielleicht haben die Krebszellen und ich jetzt einen Weg gefunden, besser miteinander zu kommunizieren.“ Nur eine Frage bekommt sie bei dieser Kommunikation nicht beantwortet, die eine Frage, die sie immer noch umtreibt: „Habe ich noch Taschen bei mir?“ Denn solange sie Gepäck bei sich hat, weiß sie, dass der Fahrstuhl ohne sie fahren wird.


„Ich sage mir jeden Morgen: Heute wird der schönste Tag meines Lebens“

Schwester Teresa Zukic, 60 Jahre
Diagnose Gebärmutterkrebs

Foto: Reto Klar

Eine große Sportlerkarriere lag vor ihr. Auf dem Sportinternat trainierte die junge Teresa, die gebürtig aus Kroatien kam, 40 Stunden die Woche. Eines Nachts konnte sie in ihrem Internatszimmer nicht schlafen und griff zu einem Buch, das vor ihrem Bett auf dem Boden lag. Eine Freundin hatte ihr Zimmer umgebaut und ihre Bücher bei Teresa zwischengelagert. „Das Buch, nach dem ich griff, war die Bibel. Ich hatte bis dahin noch nie in ihr gelesen. Der Satz: Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen, hat mich existenziell berührt“, sagt die heute 60-Jährige.

„Dann lese ich weiter und komme zu dem verrückten Satz: Wenn dich einer auf die rechte Wange haut, halte auch noch die linke hin – wie kann man denn so leben? Aber am nächsten Tag wurde ich bei einem Basketballspiel böse gefoult – und statt zu reagieren, wie ich es sonst getan hätte, blieb ich ruhig und half der Gegenspielerin auf – was für ein Gefühl des Friedens das war! So fing mein Abenteuer an!“ Und was für ein Abenteuer! ­Teresa Zukic gab mit 18 Jahren den Sport auf, ließ sich taufen und trat mit 19 Jahren ins Kloster ein. Sie lernte Altenpflegehelferin, studierte Religionspädagogik, wurde in einem sozialen Brennpunkt in Hanau Streetworkerin. „Ich habe mit den Kids das gemacht, was ich konnte: Fußball spielen, Basketball spielen und Skateboard fahren.“ Bei „Schreinemakers Live“ wurde sie so in den neunziger Jahren über Nacht einem Millionenpublikum als „Skateboardfahrende Nonne“ bekannt. 1994 gründete sie mit dem Bistum Bamberg eine neue Gemeinschaft, die „Kleine Kommunität der Geschwister Jesu“, und gibt seitdem voller Leidenschaft ihre Kraft für Gott und den Glauben – und für die Menschen. Macht Kindergottesdienste, Gottesdienste für Suchende, hält Vorträge und schreibt Bücher. Und dann kommt im Jahr 2020 die Diagnose Gebärmutterkrebs. Ein bösartiger, schnell wachsender Tumor. Ihre erste Reaktion? Untypisch – aber für Schwester Teresa doch so passend: „Warum nicht ich? Was privilegiert mich, so etwas nicht zu bekommen? Ich bin immer voller Zuversicht gewesen, selbst wenn ich Todesangst hatte. Aber was ist denn das Schlimmste am Sterben? Das du die, die du liebst, verlassen musst oder dass du die, die du liebst, hergeben musst. Aber mir war immer bewusst: Der Krebs wird nie die Nummer Eins in meinem Leben sein, sondern Gottes atemberaubende Liebe!“ Auf ihrem weiteren Weg mit der Erkrankung geschahen viele Dinge, die Schwester Teresa dieser Liebe zuschreibt. Sie geriet an die richtigen Ärzte, bekam eine vorgezogene OP. „Eigentlich nur, damit ich nicht noch mehr Schmerzmittel bekommen musste, aber wäre es nicht so gekommen, würde ich hier heute nicht sitzen.“ Durch eine zuvor durchgeführte Untersuchung von Blase und Darm war der Tumor offenbar geweckt worden – und dann nutzte kein Schmerzmittel mehr. „Ich habe vor Schmerzen geschrien.“ Schwester Teresa wurde am Montag statt wie geplant am Mittwoch operiert. „Und am Dienstag bestimmte die Regierung, dass wegen der Pandemie keine OPs mehr stattfinden sollen, nur noch Corona-Fälle.“ Der Arzt, der sie operiert hatte, war Prof. Dr. Jalid Sehouli, der gynäkologische Krebsspezialist der Berliner Charité. Inzwischen sind die beiden befreundet, haben Bücher über Ernährung bei und nach dem Krebs zusammen geschrieben. Auch nach der schweren Diagnose, die inzwischen überstanden ist, zweifelt Schwester Teresa keine Sekunde an Gott: „56 Jahre lang ging es mir gut – ich war gesehen von ihm. Ich habe das alles mitgemacht, von Diagnose bis OP, sechs Chemos, Bestrahlung, Reha – und ich habe gemerkt: Auch wenn du krank bist, kannst du glücklich sein. Wenn du ins Kloster kommst, bekommst du beigebracht, jeden Tag so zu leben, als wenn es der letzte wäre. Also was tue ich? Ich gebe mein Bestes! Ich genieße! Und jeden Morgen, wenn ich die Augen aufmache, sage ich mir: Heute wird der schönste Tag meines Lebens.“ Champagner, weiße Rosen und Cappuccino machen Schwester Teresa glücklich. Dass sie wieder gesund ist, natürlich auch. Dennoch: „Gesund sein ist das Höchste, heißt es immer. Das ist Schmarrn – was heißt das denn für Kranke und Behinderte!? Geliebt zu sein ist das Höchste! Wenn Du noch so krank bist, aber du hast eine Heldin oder einen Helden an deiner Seite, die oder der dich über alles liebt, dann erträgt man auch das Kranksein. Wir sind auf der Welt, um geliebt zu werden und zu lieben – und wenn das nicht ist, dann ist nichts.“


„Ich wollte immer nur gefallen. Heute sage ich ganz klar, was ich will und was nicht“

Willi Liedigk, 61 Jahre
Diagnose B-Zell-Lymphom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Willi Liedigk ist im Westerwald geboren und groß geworden. Seine Kindheit und Jugend war nicht leicht. Schon als Kind war er ständig krank, lag oft und lange in Krankenhäusern, „im hämatologischen Bereich stimmte mit mir schon immer irgendwas nicht“. Dazu war der Vater herzlos, die Mutter desinteressiert. Sein Gefühl über Jahre: Ich bin nicht normal und immer nur im Weg. Aus einer jung geschlossenen Ehe, die er nur einging, um zu gefallen und nicht aufzufallen, musste scheitern. Der große Gewinn daraus: Sein heute 38-jähriger Sohn. Ansonsten ließ das Lebensglück auf sich warten.

Heute ist Willi Liedigk 61 Jahre alt. Und das Glück und die Liebe haben ihn endlich gefunden. Im September 2021 heiratete der freie Redakteur und Autor seine große Liebe, seinen Mann Artjom. Zu dem Zeitpunkt war er bereits seit Jahren krank. „Aber mit der Krankheit hadere ich nicht. Ich hadere eher mit meiner privaten Situation. Dass ich mich immer nach Glück gesehnt habe und als ich es endlich hatte, hieß es: Nein, das bekommst du nicht!“ Alles begann 2006. Willi Liedigk, inzwischen lange in Berlin, spürte einen Knoten im Hals. Der ließ sich aber gut verschieben und der HNO-Arzt blieb entspannt. „Irgendwann wurde das aber ein kosmetisches Problem und ich ließ es entfernen“, sagt Willi Liedigk. Das Gewebe kam zur Untersuchung ins Labor. Fast fünf Wochen später kam der Anruf. Diagnose: Non-Hodgkin-Lymphom, das Staging ergab ein Stadium 3. „Eine Bestrahlung war nicht möglich, also hieß es, wir machen Wait and Watch.“ Viele Jahre ging das gut. „Es war kaum mehr Bestandteil meines Lebens, ich ging einmal im Jahr zur Untersuchung und das war es. Irgendwann ging es dann los, dass ich nachts viel schwitzte und mich nach und nach schlechter fühlte.“ Aber mit 55 Jahren, 2018, flog Willi Liedigk zum Tauchen nach Sharm el Sheikh. „Meine damalige Beziehung war schwierig und ich war nicht gesund. Ich war sehr traurig und verzweifelt – und genau dann lief mir dort Artjom regelrecht in die Arme.“ Da war es endlich, das Glück und die Liebe. Drei Jahre später die Hochzeit. Und dann, im Juni 2023, ging es Willi Liedigk sehr schlecht. „Ich bin morgens wach geworden und mein Bauch war ganz hart, wie ein Brett. Im MRT kam raus, dass das Lymphom, das vor 17 Jahren bei drei mal sechs Zentimetern war, nun bei 21 mal 17 Zentimetern lag. Ich habe auch überall die Lymphknoten gespürt.“ Bei der anschließenden Biopsie kam heraus, dass das Non-Hodgkin noch nachweisbar war, aber innerhalb einer Stanze zu einem B-Zell-Lymphom transformiert war. „Mein Onkologe sagte, wenn wir jetzt nicht therapieren, sind sie in ein paar Monaten tot.“ Im August begann die Chemo, sechs Zyklen. „Ich hatte unter der Chemo neurologische Probleme, dazu Orientierungslosigkeit. Und das ganze drumherum fand ich so schrecklich, das hat mich sehr belastet. Die vielen jungen Menschen und eine kam plötzlich nicht wieder… Und auch mein eigener körperlicher Verfall war psychisch sehr belastend, ich fühlte mich so ausgeliefert. Ich sah aus wie ein Zombie und ich kam mir auch so vor.“ Direkt nach der Chemotherapie sagte Artjom zu seinem sehr geschwächten Mann: „Du gehst auf keinen Fall in die Reha, wo nur Krebskranke sind, die von morgens bis abends über ihre Krankheiten reden – wie sollst du da gesund werden? Wir nehmen uns eine zweimonatige Auszeit auf den Kanarischen Inseln, ein kleines Häuschen direkt am Meer.“ Dort fand Willi Liedigk seinen Lebensmut wieder. „Wir hatten Ruhe und wunderschöne Momente der Zweisamkeit. Und ich fand endlich die Stärke, zu sagen: Ich lasse mich nicht mehr fremdbestimmen, weder durch eine Krankheit noch durch einen Menschen. Ich wollte früher immer nur gefallen. Heute sage ich ganz klar, was ich will und was nicht. Ich war guter Dinge und voller Hoffnung!“ Auch, was das PET CT anging, dass gleich nach der Rückkehr angesetzt war. Dann die Ernüchterung. „Mein Onkologe sagte, die Chemo hat ganz gut gewirkt, aber es gibt noch Restaktivität im unteren Bauch.“ 20 Bestrahlungen folgten, als nächste Möglichkeit bleibt noch die neue CAR-T-Zell-Therapie. Aber so weit ist es noch nicht. Noch gilt es abzuwarten, ob die Bestrahlung wirkt. Da bleibt Willi Liedigk weiterhin voller Hoffnung. Und genießt so lange sein spät gefundenes Lebensglück. Endlich kann er sagen: „In guten Momenten möchte ich die ganze Welt umarmen.“


„Dafür, dass es mir scheiße geht, geht es mir gut“

Bettina Krähe, 58 Jahre
Diagnose Gallengangskarzinom, unheilbar und inoperabel

Foto: Reto Klar

Ursula trug einen türkisfarbenen Rock mit einer rosa Bommelborte und dazu braune Pumps. Sie fiel in einen großen Schlund und strampelte mit den Beinen. Ursula erschien Bettina Krähe beim Reiki. „Wie Ursula in meinen Kopf gekommen war, weiß ich nicht.“ Ursula, das ist der Krebs, der seit der Diagnose im August 2022 ein Teil von Bettina Krähes Leben ist. „Wir beide haben eine WG aufgemacht“, sagt „Betti“, wie Freunde und Familie die 58-jährige Jüterbogerin nennen. „Ich hab dann zu Ursula gesagt: Gut, wenn es so schön bei mir ist, dann darfst du bleiben, aber bitte geh mir nicht auf den Keks.“

Ursula hat sich eingeschlichen in das Leben von Bettina Krähe, mit kleinen Hinweisen hat sie sich angekündigt, und dennoch traf die Diagnose sie wie aus heiterem Himmel. Ende 2021, Anfang 2022 haben sie familiäre, sorgenvolle Monate gehabt, die sind der Mutter einer erwachsenen Tochter auf den Magen geschlagen. „Ich habe viel abgenommen, im März 2022 hatte ich Magengeschwüre, die dann behandelt wurden, so weit war dann alles okay.“ Doch sie verlor weiter an Gewicht, und das Luftholen fiel ihr schwerer. So richtig klar war nicht, was ihr fehlte, vielleicht Corona? Nach einigen genaueren Untersuchungen war dann klar: kein Corona. Ursula. Genauer: ein Gallengangskarzinom. „Ich saß auf dem Kudamm beim Arzt, schaute auf das CT und sah selbst als Laie: Nee, das ist nicht schön“, erinnert sich Bettina Krähe. Der Arzt sprach nicht aus, dass es Krebs sei, was sie gefunden hatten. Aber er hob seine Hand, ballte sie zu einer Faust, boxte gegen die ebenfalls erhobene Faust der Patientin und sagte: „Ich wünsche Ihnen alles Glück dieser Welt.“ Da wusste Bettina Krähe: „Jetzt wird es böse!“ Von dort aus ging es direkt mit dem Taxi in die Charité, am nächsten Tag starteten die Untersuchungen: Magenspiegelung, Biopsie. Sechs Tage Krankenhaus. Dann ging es wieder nach Hause nach Jüterbog, wo Bettina Krähe mit ihrem Mann die kleine Pension „Damm 119“ betreibt. Und dann kam der Freitag – „der Freitag des Jahrhunderts“, sagt Bettina Krähe mit ihren leuchtenden Augen. Sie wirkt quirlig, fröhlich. Und auch wenn sie immer wieder mit den Tränen kämpft, während sie erzählt, und die Erinnerung an jene Momente nicht leicht ist, schwingt immer etwas Positives in ihrer Stimme mit. Der „Freitag des Jahrhunderts“ bringt den Anruf aus der Charité: „Der Arzt bat mich zum Patientengespräch am nächsten Dienstag. Er wollte nichts sagen, es sei nicht so schön“, erinnert sich Bettina Krähe. „,Na, kommen Sie‘, habe ich ihm gesagt, ,ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.‘“ Aber kann man das sein? Auf Sätze wie „Inoperabel und unheilbar“, „Anderthalb Jahre noch, vier Jahre sind utopisch“? Bettina Krähe hatte ihre Schwester bei sich und ihren Mann. Sie haben gemeinsam geweint. Am nächsten Tag hat auch die Tochter es erfahren, zusammen fuhren sie am darauffolgenden Dienstag nach Berlin. „Das war gut so, denn eigentlich hat man nur Watte im Kopf. Man fragt nichts, man sagt nichts, man nickt einfach nur ab, was einem da erzählt wird“, sagt Bettina Krähe. „Aber die Familie ist wach, und die stellt dann die Fragen.“ Die Antworten haben sich leider nicht geändert. Seitdem ist viel passiert: 32 Chemos hat Bettina Krähe hinter sich, im Dezember 2023 die letzte. Für ihren Tod hat die Jüterbogerin genaue Vorstellungen, sogar ihre Urne ist fast fertig: Sie entsteht aus einem Baumstamm aus dem Wald an ihrem Grundstück. „Darüber, wie meine Urne aussehen soll, habe ich mit meiner Tochter geredet, nicht mit meinem Mann. Er kann das einfach nicht“, sagt Bettina Krähe. Sie erzählt, wie sie beide manchmal – „obwohl wir beide keine großen Kuschler sind“ – sonntagmorgens zusammen im Bett liegen, sich aneinander festhalten, nach draußen ins Grüne schauen und weinen. „Aber Weinen ist gut“, sagt sie, atmet einmal laut aus und lacht schon wieder. Zum Sterben würde sie wohl in ein Hospiz gehen, sagt sie. „Dort kann mein Mann dann neben mir liegen und mir die Hand halten – wenn er das schafft. Er meinte, ich kann auch zu Hause bleiben, aber dann wäre für ihn vielleicht das Wohnzimmer irgendwann nur noch das Zimmer, in dem Betti gestorben ist. ,Ich weiß nicht, ob du das aushältst‘, habe ich zu ihm gesagt.“ Bettina Krähe hat keine Angst vorm Sterben. Nachzuholen braucht sie nichts, sagt sie – nur bei ein paar Dingen, die noch kommen, da wäre sie gern dabei: „Ich will meine Enkelkinder kennenlernen und erleben, wie meine Tochter heiratet. Aber ich habe eben ein neues Mindesthaltbarkeitsdatum bekommen“, sagt sie und lacht wieder. Jammern bringe doch niemandem etwas. Und selbst über die Momente, in denen es ihr schlecht ging, sagt sie: „Es war scheiße, aber ich war da!“


„Wir Menschen sind ja nicht auf Unsterblichkeit programmiert“

Konrad Swinarski, 73 Jahre
Diagnose Hautkrebs und Lymphom

Foto: Reto Klar

Konrad Swinarski ist eigentlich die ersten 69 Jahre seines Lebens nie wirklich krank gewesen. Na klar, hier mal eine Erkältung, dort kleine Wehwehchen. „Und ich dachte schon: Es wäre komisch, gesund zu sterben“, sagt der heute 73-jährige Jurist. „Und mir war ja auch immer klar: Statistisch gesehen musste ich irgendwann mal etwas haben. Aber mein Herz ist sehr gut – ,daran werden Sie nicht sterben‘, hat mein Arzt mir immer gesagt. Also, was blieb: Krebs oder Autounfall.“ Deswegen war der Moment der Diagnose eigentlich keine Überraschung für den in Breslau geborenen Swinarski, der zwei Kinder aus „fünf ernsten Beziehungen“ hat. „Wir Menschen sind ja nicht auf Unsterblichkeit programmiert!“

Im April 2021 kam die Diagnose Lymphom vierten Grades. „Ich hatte vor acht Jahren auch schon mal Hautkrebs, aber das fühlte sich für mich damals eher an wie eine Schönheits-OP“, sagt Swinarski mit seinem charmanten schlesischen Dialekt, der mit seinen fröhlichen Augen um die Wette feixt. Er erzählt, dass er im Februar vor der Diagnose noch in Ägypten bei der Familie eines Freundes war. „Und mein Freund hat mir gesagt: ,Konrad, du bewegst dich komisch, du bist irgendwie anders.‘ Wahrscheinlich waren das die ersten Symptome, die ich gar nicht bemerkt habe.“ Wieder zu Hause ließ er sich gründlich in einer Klinik durchchecken – und eigentlich schien alles gut zu sein, die Entlassung für den nächsten Tag war schon geplant. Swinarski erinnert sich: „Dann sehe ich am Abend beim Zähneputzen, dass meine Mandel geschwollen ist, und ich dachte: Na, dann bin ich wohl erkältet.“ Aber diesmal war es kein Schnupfen wie all die Jahrzehnte bisher. Die Entlassung wurde eine Verlegung auf die HNO-Station, es folgte eine Biopsie, weitere Untersuchungen, dann die Diagnose. „Ich habe überhaupt keine Schmerzen gehabt, das hat alle gewundert. Mich auch, denn ich habe wirklich nichts gemerkt.“ Es folgten 16 Chemotherapien, während derer Konrad Swinarski sich „nie dafür interessiert“ hat, was gemacht wurde und was er bekommt. Zum Glück ging es ihm auch während der Therapie meistens gut. „Ich habe den Ärzten immer gesagt: Macht, was ihr wollt, ihr macht das schon richtig.“ Und tatsächlich: Schließlich waren keine Krebszellen mehr da. „Mein Arzt sagte mir zwar, dass es durchaus sein kann, dass der Krebs zurückkommt – aber ich dachte: Einmal geheilt, immer geheilt!“ Doch es kam anders: Nach anderthalb Jahren war der Krebs zurück. Konrad Swinarski sagt, dass er wieder nicht überrascht war – „aber ich war sauer auf mich! Ich dachte: Du hattest anderthalb Jahre für dich, was hast du daraus gemacht? Habe Orte, die ich besuchen wollte, nicht besucht, Personen nicht getroffen, die ich treffen wollte, und Familiendokumente nicht sortiert und geregelt, die ich regeln wollte. Und warum? Weil ich immer dachte: Ach, ich hab noch so viel Zeit.“ Dennoch hadert er nicht mit seinem Schicksal: „Ich bin doch ein Mensch, der das Leben kennt. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Und so muss es ja kommen. Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Wenn ich daran denke, dann denke ich an Ruhe.“ Nur an einem einzigen, festen Ort wäre er dann ungern. Darüber habe er gerade auch mit seinem Sohn gesprochen. „Es gibt die Möglichkeit, dass die Asche in die Oder gestreut wird. Dann fressen mich die kleinen Fische, und die kleinen Fische werden von den großen Fischen gefressen – und so komme ich überallhin“, sagt Konrad Swinarski. Aber sein Sohn habe ihm gesagt, er brauche einen Ort, an den er gehen könne, an dem er seinen Vater irgendwie noch habe. „So haben wir ganz natürlich darüber gesprochen, und das sollte man in der Familie immer tun. Genauso wie man darüber spricht und plant: An Weihnachten fahren wir zu Tante Hilda …“ Konrad Swinarski ist übrigens ein leidenschaftlicher Poker-Spieler – aber absolut keine Spielernatur, wie er betont. Und auch sein Leben vergleicht er gern mit einem Poker-Spiel. „Du hast keinen Einfluss darauf, was für Karten du bekommst – aber nur von dir hängt ab, wie du sie spielst“, sagt er, und seine Augen blitzen wieder fröhlich auf. Natürlich sei sein Körper heute schwächer als früher, aber sein Denken sei noch besser und schneller als früher. „Als hätte mein Gehirn mehr Speed durch die Chemo, die Bluttransfusionen und all die Medikamente. Mein Körper kann da nicht mehr mithalten.“ Aber das sei gut so, er sei zufrieden mit sich und als Mensch fühle er sich durch die Erfahrungen mit der Krankheit sogar besser als früher. Oder, um es als Poker-Spieler zu sagen: „Ich war schon immer mit den Blättern zufrieden, die ich im Leben bekommen habe.“


„Mach das Schicksal anderer nie zu deinem eigenen“

Kerstin Haake, 44 Jahre
Diagnosen zweimal Brustkrebs

Foto: Reto Klar

Es ist ein Gendefekt. „BRCA1“ der medizinische Fachbegriff. Kerstin Haake erfuhr davon Ende 2020. Da bekam die damals 40-Jährige ihre zweite Brustkrebs-Diagnose. Die erste war bereits zwölf Jahre her. „Ich hätte mich schon bei der Diagnose 2008 auf den Defekt testen lassen können – meine Mutter war kurz vor mir an Brustkrebs erkrankt und ich wurde zu einer genetischen Beratung eingeladen“, sagt die heute 44-jährige Beamtin im öffentlichen Dienst. „Ich habe mich damals dagegen entschieden. Ich wollte das nicht wissen.“

27 Jahre war Kerstin Haake damals alt. Erst hieß es, sie habe eine Zyste, die sich wohl zyklusabhängig veränderte. Erst mal abwarten – erst mal mit den Freundinnen in den Urlaub nach Südostasien. Der jungen Frau war klar, dass da was in ihrer linken Brust war, es wuchs und war deutlich sicht- und tastbar. „Aber ich hatte einfach kein Bild von Krebs, und das, obwohl meine Mutter ja kurz zuvor ebenfalls erkrankt war.“ Der Termin nach dem Urlaub im Brustzentrum zwang Kerstin Haake dann aber dazu, ein Bild von Krebs zu haben: Brustkrebs, aggressiv und schnell wachsend, aber mit guten Heilungschancen. „Und deswegen bin ich da auch positiv rangegangen: Meine Mama hat das auch geschafft – sie ist da durchgegangen und gut rausgekommen: So mache ich das jetzt auch.“ Kerstin Haake war damals Single, ging noch einmal ordentlich feiern und tanzen, bevor die Chemotherapie startete. „Nach der ambulanten Chemo bin ich immer für zwei Tage mit zu meinen Eltern gegangen, damit ich nicht allein war.“ In all der Zeit war und blieb sie optimistisch – diese Einstellung und ihre Freunde und Familie hätten sie durch diese Zeit getragen. Und alles wurde gut. Kerstin Haake heiratete und bekam zwei Töchter, die heute neun und zwölf Jahre alt sind. „Das ist wirklich seit der ersten Diagnose das Schönste, was mir passiert ist: dass mein Körper die erste Chemo so gut überstanden hatte, dass ich zwei Kinder bekommen konnte, ohne dass ich Unterstützung brauchte.“ Ende 2020, Kerstin Haake war 40 Jahre alt, folgte dann die zweite Diagnose, den Tumor hatte sie selbst ertastet. Die OP folgte schnell, „ich wollte nicht mit dem Krebs Weihnachten feiern“. Im Januar 2021 begann die Chemo, dazu folgte die Entfernung der Eierstöcke und Eileiter wegen des Gendefekts – auch bei ihrer Mutter. „Wir haben zusammen ein Doppelzimmer in der Charité gebucht“, erzählt Kerstin Haake, die mit ehrlichem Optimismus und feinem Humor über ihre Krankheitsgeschichte spricht. Auch über die nachfolgenden Monate, in denen die Entfernung des Brustdrüsengewebes und der Aufbau der Brüste viel Kummer bereitete: schlechte Heilung, Infektion, wieder gestörte Wundheilung. „Ich hatte drei OPs in sieben Wochen“, erinnert sich Kerstin Haake. „Ich konnte die Charité nicht mehr sehen und habe gesagt: Ganz ehrlich, ich komme erst wieder, wenn ihr hier tapeziert!“ Ihr Weg ist bis heute nicht beendet, der Brustaufbau läuft noch immer. Aber Kerstin Haake ist sich ohnehin bewusst, dass sie „das Thema Krebs nicht mehr abhaken“ kann in ihrem Leben. „Nach der ersten Erkrankung konnte ich das. Ich war jung und habe einfach mein Leben wieder aufgenommen.“ Heute geht das nicht mehr. Weil Freundschaften entstanden sind, „Krebsfreundschaften“. Und natürlich auch, weil Kerstin Haake zwei Töchter hat. „Die Ärzte haben damals gesagt: ,Am besten wäre es, Sie bekommen Kinder bis zum 35. Lebensjahr – und am allerbesten kriegen Sie Jungs.‘ Ich hoffe also sehr, dass die Medizin sich weiterentwickelt, sodass meine Töchter das dann nicht erleben müssen.“ Aber Kummer und Sorgen bestimmen ihren Alltag nicht: „Momentan habe ich beschlossen, dass das mein Jahr wird! Ich liebe und feiere das Leben“, sagt Kerstin Haake, und man glaubt ihr sofort. „Ich habe mein Leben nicht umgestellt, meine Ernährung nicht verändert und ich verzichte auch nicht komplett auf Alkohol. Zu den Krebspatienten gehöre ich nicht.“ Und bei ihr überwiegen die Gedanken der guten Momente: „Ich werde steinalt, ich habe alles getan, um den Gendefekt auszuschalten.“ Und doch kann in den schwachen Momenten „jedes Zipperlein“ eine neue Diagnose sein und die traurig verlaufenden Geschichten anderer Krebspatienten ein Dämpfer. Aber eines hat Kerstin Haake gelernt: „Mach das Schicksal anderer nie zu deinem eigenen! Das ist das, was dich am Leben hält, und das ist das, was zählt!“


„Die Krankheit ist wie der Tod eines besten Freundes“

Michael Hölzl, 51 Jahre
Diagnose Mantelzelllymphom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Michael Hölzl ist wahrscheinlich das, was man einen Lebemann nennt. Viel harte Arbeit, viel gutes Leben, häufig auf der Überholspur. Bestens ausgebildet, wortgewandt. Ein Macher. Bis es Ende Mai 2020 plötzlich hieß: „Sie haben nicht mehr lange.“ Diagnose: Mantelzelllymphom, unheilbar. Der 1973 in Innsbruck geborene Hölzl hatte zuvor noch die Hoffnung, dass die pulsierende Erbse im rechten vorderen Lendenbereich, die er dort seit drei, vier Tagen spürte, ein Leistenbruch sei.

Nach ein paar abgleichenden Telefonaten mit seinem Vater und anderen Betroffenen im Freundeskreis war dem studierten Architekten schnell klar: Das war kein Leistenbruch. „Ich ging zu meinem Hausarzt, und da meinte die Ärztin nach dem Ultraschall, dass das Gerät wahrscheinlich defekt sei – sie müsse noch mal jemanden dazuholen“, erinnert sich Hölzl. „Zu zweit saßen sie dann vor dem Monitor, haben sich immer wieder wortlos angeschaut – da wusste ich schon: Das ist nicht gut. Und dann kam die Aussage: Sie stehen kurz vorm multiplen Organversagen.“ Dann ging alles sehr schnell: Es folgten verschiedene Diagnostik-Termine, eine Biopsie, dann eine zehntägige Diagnostik. 37 Kriterien wurden untersucht – wurden diese alle erfüllt, konnte Michael Hölzl an einer Studie teilnehmen. Zu diesem Zeitpunkt seine einzige Chance aufs Überleben. Die derzeit klassisch angewandte Behandlungsmethode wäre gescheitert. Nur so hat der seit vier Jahren für einen Unternehmer als Privatsekretär tätige Hölzl bis heute überlebt. „Jetzt habe ich sogar die Chance auf sechs bis sieben Jahre Ruhe, dann wird die Krankheit wohl langsam wieder starten. Aber bis dahin kann es ja auch schon wieder eine andere Medikation geben“, sagt Michael Hölzl, der seit dem Jahr 2000 in Berlin lebt. Er sagt, er habe „tiefstes Vertrauen in die Versorgungsstruktur“, und nie habe er daran gezweifelt, dass seine Therapie und seine Behandlung das Richtige sei. Mit seinem Schicksal hadern? Wozu? „Ich habe alles an meiner Behandlung sehr wertgeschätzt und tue nun selbst alles dazu, dass es meinem Körper gut geht“, erklärt Michael Hölzl. Sein Fokus im Leben hat sich ein wenig verschoben. Heute achtet er auf Ernährung, auf Pausen, gönnt sich Ruhe, wenn er merkt, dass sein Körper diese braucht. „Meine Grenzen sind anders gesteckt – früher hatte ich keine. Außer ich falle tot um.“ Auch die Wahrnehmung seines Umfelds, auch des persönlichen, habe sich geändert: „Wenn du erst mal so eine Erkrankung oder Diagnose hast, merkt man erst, was das für ein Massenphänomen ist. Weniger als jeder Dritte bekommt in seinem Leben eine Krebsdiagnose – ob man daran stirbt, ist dann noch einmal eine andere Frage. Auch in unserer Firma hatte jeder Dritte Krebs.“ Wer sich dessen bewusst ist, geht anders durchs Leben, kann neu sortieren. Auch Michael Hölzl hat das getan: „Mein Leben ist viel klarer geworden. Ich schätze andere Dinge, ich strukturiere mich neu und ich habe den Fokus mehr auf den prodynamischen, lebensbejahenden Dingen.“ Damit habe er schon direkt nach der Diagnose angefangen. Als er „zwei Minuten lang tiefgründig abgeklopft“ hatte, welche Wege es gebe, um sein Leben schnell zu beenden. „Die haben mir alle nicht gefallen.“ Also hat er seinen Fokus auf die Genesung gelegt und alles eliminiert, was ihm nicht 100-prozentig gutgetan hat. Bis September 2023 ging seine Behandlung. Und nun also Ruhe. Bis die Krankheit, die ja nicht weg ist, wieder ausbricht. Aber jetzt ist jetzt. Und das Wort Hoffnung mag Michael Hölzl nicht: „Ich bin kein Mensch, der hofft. Ich hasse Hoffnung. Hoffnung bringt einen nicht weiter.“ Er weiß, dass er auch viel Glück hatte, dass seine Behandlung gut angeschlagen hat, dass es ihm vergleichsweise gut ging. Auch wenn er Tage hatte, an denen er nicht wusste, wie er vom Bett in sein vor der Tür geparktes Auto kommen sollte: „Ich habe meine Krankheit ein wenig so empfunden wie den Tod eines besten Freundes. Weil ein Stück der eigenen Identität wegbricht und man danach eine andere annimmt. Man ist nicht mehr der Silberrückengorilla, der man vorher war.“ Sicher auch deshalb, weil man manchmal eben auch mitbekommt, wie schnell alles vorbei sein kann: Zweimal hat er erlebt, dass Mitpatienten plötzlich zugedeckt auf ihrem Bett liegen. Für seinen eigenen Tod ist bereits alles geregelt: „Egal, wo ich in Europa sterbe, werde ich eingesammelt und komme dann vor der Verbrennung an die Charité. Ich habe mich als Körperspender zur Verfügung gestellt“, sagt Michael Hölzl. „Als kleines Dankeschön.“


„Zeit ist das größte Geschenk, das man mir machen kann“

Anja Ackermann, 49 Jahre
Diagnose Lungenkrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Den Moment, als die Krankenschwester ihren Kopf zur Tür reinsteckte und fragte: „Wie lange dauert das hier noch?“, wird Anja Ackermann niemals vergessen. Kurz zuvor hatte ihr ein junger Arzt in einem kargen Zimmer, in dem noch ein angebrochenes Mittagessen auf dem Tisch stand, mitgeteilt, dass sie einen bösartigen Lungentumor hat. Inoperabel, die Behandlung lediglich noch palliativ. Wie lange dauert das hier noch? Für Anja Ackermann ohne Therapie drei bis zwölf Monate, mit etwa zwölf Monate. Das war im Mai 2022, die Statistik hat sie immerhin besiegt.

„Ich erinnere mich noch, dass ich mich absurderweise gefreut habe – keine OP“, sagt die heute 49-jährige Bildungsberaterin. Sie hatte eine Freundin aus Hamburg bei sich damals, schließlich habe sie gespürt, dass es etwas Schlimmes ist. Sie hatte Schmerzen beim Atmen auf der linken Lungenseite. „Lungenkrebs hat leider die Eigenschaft, sich lange Zeit nicht bemerkbar zu machen. Für eine Schilddrüsenuntersuchung habe ich ein CT machen lassen. Am nächsten Tag saß ich bei der Ärztin, die mir per Mail einen Termin am nächsten Tag gesendet hatte. Man hätte da was gefunden, wahrscheinlich Krebs“, erinnert sich Anja Ackermann. Sie hat eine wunderschöne Stimme, nur ab und zu unterbrochen von einem kleinen Räuspern. „Ich habe erst geflucht, dann geweint“, sagt die studierte Kulturwissenschaftlerin. Weitere Untersuchungen folgten, dazu Biopsien – ein Monat verging, bis zu dem Tag im Mai, als die endgültige Diagnose feststand: Lungenkrebs, Endstadium. Vier Stunden hatte sie zuvor in der Lungenambulanz zusammen mit ihrer Freundin gewartet, sei „fast verrückt“ geworden. Es war nicht die erste Krebsdiagnose in ihrem Leben. Mit 29 Jahren wurde bei Anja Ackermann Brustkrebs diagnostiziert. „Meine Mutter ist jung an Krebs gestorben – ich dachte damals, jetzt passiert mir das auch.“ Doch Anja Ackermann besiegte den Krebs – damals wie heute helfen ihr Freunde. „Niemand aus meinem Umfeld hat sich zurückgezogen, niemand hat Berührungsängste gehabt“, erklärt Anja Ackermann. „Alle haben signalisiert, dass sie für mich da sind und mich unterstützen.“ Ihre erste Diagnose kam am ersten Tag ihres ersten Jobs nach dem Studium. „Ich habe danach lange am Rande der Armutsgrenze gelebt, habe Toast mit Senf gegessen, Schulden gemacht bei der Bank, die den Dispo immer weiter erhöht hat. Mit 40 Jahren kam die Insolvenz, als ich einsah, dass ich die Schulden mit meinen freiberuflichen Jobs in der Museumspädagogik nicht stemmen konnte“, sagt Anja Ackermann. „Tja, und als die Insolvenz vorbei war, kam Corona, und als Corona vorbei war, kam der Lungenkrebs.“ Und ja, manchmal hadere sie mit dem Schicksal: „Ich habe Jahrzehnte auf so viel verzichtet, bin nicht in den Urlaub gefahren, habe auf der Speisekarte immer das Billigste genommen – und natürlich wollte ich das alles irgendwann einmal nachholen. Jetzt geht das nicht mehr.“ Ein paarmal habe sie versucht, in den Urlaub zu fahren. Einmal bekam sie vorher blutigen Husten, ein anderes Mal wurde eine Metastase im Gehirn gefunden. Mit „so etwas“ fährt man nicht in den Urlaub. Im schlimmsten Fall kann bei einem geplatzten Blutgefäß, das der Tumor aufreißt, in kurzer Zeit ihre Lunge mit Blut volllaufen. „Das will ich nicht im Ausland erleben“, sagt Anja Ackermann. Der Traum vom Mittelmeer, von Sonne und barfuß am Strand bleibt genau das, ein Traum. „Ich bin einfach zu schwach.“ Es ist ein Abschied von vielen: „Eigentlich ist jeder Tag ein kleiner Abschied: Ich musste mich von der Arbeit verabschieden, von Urlauben, von Konzerten, ich bin nicht mehr so viel wach …“ Es gibt viele schlechte Momente, erzählt sie. Auch Momente, in denen sie nicht mehr leben wollte. „Denn eigentlich bin ich ganz anders, als ich es jetzt bin, viele meiner Eigenschaften sind vergraben“, sagt Anja Ackermann. „Und wenn ich mich irgendwann nicht mehr wiedererkenne, dann möchte ich eigentlich eine Pille bekommen, mit der ich einfach einschlafen kann.“ Aber da gibt es eben auch noch die guten Momente. Die Zeit, die sie mit Freunden und Familie verbringt. Die Liebe, die sie erfährt, den Zusammenhalt. „Das ist und war auch meine Motivation, die Therapien zu machen: die Aussicht auf gemeinsam verbrachte Zeit“, sagt Anja Ackermann und ergänzt: „Ich versuche, es den anderen auch nicht so schwierig zu machen, das Zusammensein für die anderen so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich versuche, möglichst wenig zu jammern und noch so viel wie möglich von der alten Anja hochzuholen.“


„Natürlich möchte ich mein altes Leben noch mal zurückhaben“

Reto Klar, 57 Jahre
Diagnose Mantelzelllymphom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Reto Klar hatte immer Energie für zwei. Mindestens. Sechs- oder Sieben-Tage-Woche, jeden Morgen eine Stunde auf dem Spinning Bike und zusätzlich abends dreimal die Woche eine Stunde joggen. Immer ruhelos, immer in Bewegung, niemals geduldig. Erschöpfung? Fehlanzeige. Pausen? Brauchte er nicht. Aber dann, ganz plötzlich, eben doch. „Meine sportliche Leistung wurde schlechter“, sagt der 57-jährige Fotograf. „Und erst habe ich gedacht, ich bin vielleicht übertrainiert.“ Außerdem war es Sommer, an einigen Tagen sehr heiß. „Ich habe mir also nicht wirklich Gedanken gemacht, dachte: Die Hitze schlaucht halt.“ Aber einmal zum Arzt das Blutbild checken schadet ja nicht. Reto Klar war entspannt – schließlich war er nie krank, sein Körper funktionierte immer.

Und dann klingelte das Telefon, am Abend der Blutentnahme, gegen halb neun. „Das war mein Hausarzt, der mich drängte, direkt ins Krankenhaus zu fahren“, erinnert sich der Vater zweier Töchter (15 und 17 Jahre). „Mein Hb-Wert lag bei knapp unter sechs – normal sei alles zwischen 12 und 14.“ Der erste Verdacht: innere Blutungen, eventuell ein Magengeschwür. Reto Klar fuhr direkt ins Krankenhaus, und „von dem Moment an war ich in der Maschinerie“. Der schlechte Blutwert bestätigte sich, aber da alle anderen Werte gut waren und er erstaunlich fit wirkte, durfte Reto Klar wieder nach Hause. Zunächst. Denn es folgte eine stationäre Aufnahme, um weitere Untersuchungen zu machen. Dafür lag der leidenschaftliche Rennradfahrer auf der Onkologie. „Das legte ja nahe, welcher Verdacht bestand.“ Eine Biopsie des Knochenmarks sollte Klarheit bringen. „Ich durfte wieder nach Hause, und man sagte mir, wenn ich in den nächsten Tagen nichts höre, sei das ein gutes Zeichen – dazu bekam ich einen Termin zur sogenannten Blutsprechstunde etwa zwei Wochen später.“ Das Telefon blieb ruhig – und Reto Klar dachte sich: Glück gehabt! Am 6. Oktober 2023 dann der Tag der Sprechstunde. Reto Klar ging allein hin, guter Dinge, morgens um acht schon, er hatte ja schließlich noch viel zu tun. Aber die Ärzte auch – und der Termin war für halb zwölf eingetragen. „Ich blieb aber dort und saß also dreieinhalb Stunden auf dem Flur.“ Dann schaute der Arzt auf seine Zettel, schaute den Mann vor sich an und sagte diesem dann, dass er ein Mantelzelllymphom habe. „Das hat mir natürlich überhaupt nichts gesagt, aber ich habe an seinem Blick gesehen, dass das nichts für die leichte Schulter war. Und dann brach eine Welle über meinem Körper zusammen. Ich war nicht mehr aufnahmefähig und fühlte mich, als würde ich immer weiter wegrutschen von dieser Szenerie.“ Durch einen dumpfen Schleier erreichten ihn Worte wie „unheilbar“ und „Lebenserwartung“. Nach heutigem medizinischen Stand liege die bei etwa zehn Jahren. Diese erste Phase nach der Diagnose war für Reto Klar die schwerste: „Ich hatte Fragen über Fragen. Wie lange bleibt mir? Was mache ich mit der Familie? Das hat mich mitgenommen. Meine Frau und meine Töchter haben natürlich einen besonderen Stellenwert, sie sind meine Bezugspersonen – aber eben auch diejenigen, um die man sich sorgt und die man nicht belasten will. Und trotzdem die Nähe braucht.“ Die Arbeit nahm - wie schon immer in seinem Leben - eine ganz besondere Rolle ein. „Sie war wie eine Leitplanke durch diese Zeit.“ Außer den Klinikaufenthalten für die stationären Chemos hat Reto Klar keinen Arbeitstag verpasst. Sechs Chemos bekam er, drei stationär, drei ambulant. Die Nebenwirkungen: minimal. Nervenkribbeln, schlechteres Hörvermögen, Hautprobleme. Viel schlimmer als die körperliche Belastung aber war die psychische Belastung, die durch eine Ablehnung der Krankenkasse entstand: Reto Klar war zu spät dran, um an einer Studie mit einem neuen Medikament teilzunehmen und zu früh für dessen Zulassung. „Die Krankenkasse lehnte zweimal ab, obwohl die klassische Behandlung auf dem Stand der 1980er Jahre ist.“ Noch immer ist die Behandlung nicht komplett abgesegnet. Aber sie läuft erstmal. Das hat viel Kraft gekostet. Aber auch neue Kraft hat Reto Klar gefunden - in und mit der Krankheit. „Ich erlebe eine neue Intensität in der Beziehung zu meiner Frau, erlebe familiäre Bindungen viel intensiver und habe eine weniger harte Schale als früher.“ Dazu gehören auch negative Gedanken, die ihn manchmal einholen: Wirst du jemals wieder der Alte? „In den guten Momenten ist meine Antwort: Natürlich! Und natürlich möchte ich mein altes Leben nochmal zurückhaben.“ Und ganz egal, ob altes oder neues Leben - zwei Wünsche hat Reto Klar: „Ich möchte meine Frau nochmal heiraten und meinen 70. Geburtstag erleben. Ich bin heute sehr froh, dass die Ärzte nicht wirklich voraussagen können, wie lange ich noch lebe. Das macht mich so normal wie jeden anderen gesunden Menschen. Schließlich weiß keiner von uns, was morgen passiert.“


„Und jetzt bin ich im sechsten Monat schwanger“

Anja Laskowski, 36 Jahre
Diagnose Brustkrebs

Foto: Reto Klar

Am 6. Februar 2020 musste der Frauenarzt von Anja Laskowski der damals 31-Jährigen mitteilen, dass sie Brustkrebs hatte. Was für ein besonderer Moment es also auch für ihn gewesen sein muss, als er ihr kurz nach Pfingsten 2024 sagen konnte, dass die junge Wirtschaftsjuristin entgegen allen Prognosen und Wahrscheinlichkeiten schwanger ist! „Ich habe sehr viele Freudentränen geweint und wäre fast geplatzt vor Glück. Ich habe so viele negative Gedanken und Erfahrungen geteilt mit meinem Umfeld – ich war so glücklich, mal so schöne Nachrichten verbreiten zu können.“ Am 24. Januar nächsten Jahres soll ihr Sohn auf die Welt kommen. Ein Wunder, das nicht möglich schien.

„Als ich die Diagnose triple negatives Mammakarzinom bekam, lebte ich mit meinem damaligen Freund und unserem Hund Gonzo in Wismar. Wir hatten Hochzeits- und Kinderpläne für das Jahr. Ich habe den Knoten selbst ertastet, an einem Sonntag. Da ich bis dato nichts hatte, was über eine Erkältung hinausging und zudem ein wichtiges Arbeitsprojekt anstand, habe ich das nicht wirklich ernst genommen.“ Doch ihr damaliger Freund und vor allem eine drängende Arzthelferin am Telefon ließen die junge Frau umdenken. „Am Nachmittag hatte ich den Ultraschall und eine direkte Überweisung zur Mammografie. Und einen Biopsie-Termin hatte ich danach vorsorglich auch schon“, sagt Anja Laskowski. „Nach der Mammografie war immer noch nicht ganz klar, was es ist. Die Biopsie fand ich wahnsinnig schmerzhaft und emotional schwierig. Ich sollte dann am Donnerstag bei meinem Frauenarzt anrufen – aber sie riefen mich an. Und als ich am Nachmittag in die Praxis kam, schauten mich alle so an – da war mir klar, dass es Krebs ist.“ Anja Laskowski sollte direkt ins Krankenhaus – auf dem Weg dorthin weinte sie viel, stand „total unter Schock“. Trotzdem rief sie ihre Mutter und bei ihrem Arbeitgeber an, um Bescheid zu sagen. „Für meine Mutter muss das so schlimm gewesen sein. Einen Monat vorher hatte meine Oma eine Blasenkrebs-Diagnose bekommen. Nun hatten also ihre Mutter und ihre Tochter Krebs – ich wäre wirklich immer lieber Betroffene als Angehörige.“ Zu den Terminen, die in den nächsten Tagen anstanden, gehörte auch eine Beratung zur Kryokonservierung – zum möglichen Einfrieren von Eizellen vor der Chemo. „Meine Krebsform war aber sehr aggressiv und es gab keine Zeit zu verlieren. Ich habe die Ärztin gefragt, was sie mir raten würde, wenn ich ihre Tochter wäre und sie sagte: Was wollen Sie denn mit den Eizellen, wenn Sie das nicht überleben? Ich habe mich dann dagegen entschieden und mich aufs Überleben konzentriert.“ Am 17. Februar startete die erste Chemo, dann folgten OP, Bestrahlung – und eine zweite Chemo, da noch aktives Gewebe vorhanden war. Das war für Anja Laskowski, die seit ihrer Krebserkrankung zusätzlich einen Mini-Job bei yeswecan!cer hat, der schlimmste Moment. Aber sie hatte sich gleich von Anfang an vorgenommen, nicht zusammenzubrechen: „Wenn ich gemerkt habe, dass die Tränen und die Angst kommen, dann habe ich mir einen Timer gestellt und mir gesagt: Okay, 15 Minuten ist jetzt Zeit dafür, dann ist damit Schluss. Ich wollte nicht, dass die Angst mich lähmt.“ Und das tat sie nicht, dennoch habe sie sich sehr verändert. „Mein Fokus im Leben ist ein anderer geworden, meine Beziehung von damals ist in die Brüche gegangen, ich habe jemand Neuen kennengelernt, mir eine Bucket List geschrieben und bin Ende 2022 nach Schwerin gezogen.“ Und dann passierte an Pfingsten das Unglaubliche: Anja Laskowski hielt einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen. Dabei hatte ein Fruchtbarkeitstest im Januar noch ergeben, dass dies unmöglich sei. „Wegen der Feiertage musste ich warten. Ich habe dann gegoogelt, was ein falsch positiver Test sein könnte – da stand dann immer Eierstockkrebs. Und ich dachte: Okay – entweder ist das jetzt das Allerschlimmste, was dir passieren kann, oder eben das Allerschönste.“ Es ist das Allerschönste. Und auch ein Rezidivverdacht, der nun aufgrund ihrer Schwangerschaft weder ausgeschlossen noch bestätigt werden kann, nimmt ihr nicht die unbändige Freude über ihr Kind. „Als ich damals die Diagnose bekam, wollte ich bereits seit mehreren Monaten schwanger werden und es hat nicht geklappt. Deswegen glaube ich jetzt fest daran, dass alles gut ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das Leben so grausam ist.“

Das Buch

Diese Bilder und Geschichten erscheinen Ende November in dem Buch „Tief in mir. Mein Leben mit Krebs.“ im Klartext-Verlag. 120 Seiten, ISBN: 978-3-8375-2682-0

Britta Klar

Britta Klar, geborene Stahlberg, wurde 1977 in Hamburg geboren. Schon während der Schulzeit hat sie erste Zeitungserfahrungen bei der „Hamburger Morgenpost“ gesammelt. 1999 begann sie ihr zweijähriges Volontariat bei der Axel Springer Akademie in Hamburg. Im Anschluss daran arbeitete sie als freie Mitarbeiterin bei der BILD Zeitung, der WELT und WELT am SONNTAG in Hamburg. Ab 2005 war sie Redakteurin bei der WELT und WELT am SONNTAG in Hamburg. Als sie 2009 mit ihrem Mann Reto Klar und den zwei gemeinsamen Töchtern Charlotte und Leo nach Berlin zog, arbeitete sie als Redakteurin im Lokalressort der BERLINER MORGENPOST. Zuletzt arbeitete sie als Senior Editor beim Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung.

Reto Klar

Reto Klar wurde 1967 in Hamburg geboren. Er absolvierte sein Volontariat bei der dpa und arbeitet seit den 1980er Jahren als Fotograf bei der WELT und WELT am SONNTAG und ist seit zehn Jahren Cheffotograf bei der FUNKE Mediengruppe und Foto-Chef bei der BERLINER MORGENPOST. Von ihm sind bereits zahlreiche Bücher erschienen, darunter „Hamburg - Das Bilderbuch (1997)“, „Hoher Himmel - Weites Land. Norddeutsche Panoramalandschaften“ (2001), „Camera Obscura - Deutschlands Burgen und Schlösser“ (2003) und „Unsichtbar: Vom Leben auf der Straße“ (2014). Für Letzteres gewann Reto Klar 2015 den Hansel-Mieth-Preis für die daraus entstandene Multimedia-Reportage. 2017 erschien der Bildband „Polaroid - Prominente im Sofortbild“. Seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 reiste er regelmäßig in die Ukraine und berichtet fotografisch aus allen Regionen des Landes. Daraus entstand ein Buch gemeinsam mit Jan Jessen „Das Leben in einem Albtraum - Was der Krieg in der Ukraine mit den Menschen macht“ (2023).


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Berliner Morgenpost, 07.11.2024
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