Tief in mirMein Leben mit Krebs

„Sie haben Krebs.“ Ein Satz, der jeden Menschen bis ins Mark erschüttert. Unser Fotograf Reto Klar bekam im vergangenen Herbst diese Diagnose – und begann, auf seine Art, mit der Krankheit umzugehen: Er fotografierte andere Betroffene und fragte sie, was der Krebs für ihr Leben bedeutet. Ihre Portraits und Geschichten zeigen, wie eng Mut und Angst, Traurigkeit und Lebensfreude beieinander liegen.


„Dafür, dass es mir scheiße geht, geht es mir gut“

Bettina Krähe, 58 Jahre
Diagnose Gallengangskarzinom, unheilbar und inoperabel

Foto: Reto Klar

Ursula trug einen türkisfarbenen Rock mit einer rosa Bommelborte und dazu braune Pumps. Sie fiel in einen großen Schlund und strampelte mit den Beinen. Ursula erschien Bettina Krähe beim Reiki. „Wie Ursula in meinen Kopf gekommen war, weiß ich nicht.“ Ursula, das ist der Krebs, der seit der Diagnose im August 2022 ein Teil von Bettina Krähes Leben ist. „Wir beide haben eine WG aufgemacht“, sagt „Betti“, wie Freunde und Familie die 58-jährige Jüterbogerin nennen. „Ich hab dann zu Ursula gesagt: Gut, wenn es so schön bei mir ist, dann darfst du bleiben, aber bitte geh mir nicht auf den Keks.“

Ursula hat sich eingeschlichen in das Leben von Bettina Krähe, mit kleinen Hinweisen hat sie sich angekündigt, und dennoch traf die Diagnose sie wie aus heiterem Himmel. Ende 2021, Anfang 2022 haben sie familiäre, sorgenvolle Monate gehabt, die sind der Mutter einer erwachsenen Tochter auf den Magen geschlagen. „Ich habe viel abgenommen, im März 2022 hatte ich Magengeschwüre, die dann behandelt wurden, so weit war dann alles okay.“ Doch sie verlor weiter an Gewicht, und das Luftholen fiel ihr schwerer. So richtig klar war nicht, was ihr fehlte, vielleicht Corona? Nach einigen genaueren Untersuchungen war dann klar: kein Corona. Ursula. Genauer: ein Gallengangskarzinom. „Ich saß auf dem Kudamm beim Arzt, schaute auf das CT und sah selbst als Laie: Nee, das ist nicht schön“, erinnert sich Bettina Krähe. Der Arzt sprach nicht aus, dass es Krebs sei, was sie gefunden hatten. Aber er hob seine Hand, ballte sie zu einer Faust, boxte gegen die ebenfalls erhobene Faust der Patientin und sagte: „Ich wünsche Ihnen alles Glück dieser Welt.“ Da wusste Bettina Krähe: „Jetzt wird es böse!“ Von dort aus ging es direkt mit dem Taxi in die Charité, am nächsten Tag starteten die Untersuchungen: Magenspiegelung, Biopsie. Sechs Tage Krankenhaus. Dann ging es wieder nach Hause nach Jüterbog, wo Bettina Krähe mit ihrem Mann die kleine Pension „Damm 119“ betreibt. Und dann kam der Freitag – „der Freitag des Jahrhunderts“, sagt Bettina Krähe mit ihren leuchtenden Augen. Sie wirkt quirlig, fröhlich. Und auch wenn sie immer wieder mit den Tränen kämpft, während sie erzählt, und die Erinnerung an jene Momente nicht leicht ist, schwingt immer etwas Positives in ihrer Stimme mit. Der „Freitag des Jahrhunderts“ bringt den Anruf aus der Charité: „Der Arzt bat mich zum Patientengespräch am nächsten Dienstag. Er wollte nichts sagen, es sei nicht so schön“, erinnert sich Bettina Krähe. „,Na, kommen Sie‘, habe ich ihm gesagt, ,ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.‘“ Aber kann man das sein? Auf Sätze wie „Inoperabel und unheilbar“, „Anderthalb Jahre noch, vier Jahre sind utopisch“? Bettina Krähe hatte ihre Schwester bei sich und ihren Mann. Sie haben gemeinsam geweint. Am nächsten Tag hat auch die Tochter es erfahren, zusammen fuhren sie am darauffolgenden Dienstag nach Berlin. „Das war gut so, denn eigentlich hat man nur Watte im Kopf. Man fragt nichts, man sagt nichts, man nickt einfach nur ab, was einem da erzählt wird“, sagt Bettina Krähe. „Aber die Familie ist wach, und die stellt dann die Fragen.“ Die Antworten haben sich leider nicht geändert. Seitdem ist viel passiert: 32 Chemos hat Bettina Krähe hinter sich, im Dezember 2023 die letzte. Für ihren Tod hat die Jüterbogerin genaue Vorstellungen, sogar ihre Urne ist fast fertig: Sie entsteht aus einem Baumstamm aus dem Wald an ihrem Grundstück. „Darüber, wie meine Urne aussehen soll, habe ich mit meiner Tochter geredet, nicht mit meinem Mann. Er kann das einfach nicht“, sagt Bettina Krähe. Sie erzählt, wie sie beide manchmal – „obwohl wir beide keine großen Kuschler sind“ – sonntagmorgens zusammen im Bett liegen, sich aneinander festhalten, nach draußen ins Grüne schauen und weinen. „Aber Weinen ist gut“, sagt sie, atmet einmal laut aus und lacht schon wieder. Zum Sterben würde sie wohl in ein Hospiz gehen, sagt sie. „Dort kann mein Mann dann neben mir liegen und mir die Hand halten – wenn er das schafft. Er meinte, ich kann auch zu Hause bleiben, aber dann wäre für ihn vielleicht das Wohnzimmer irgendwann nur noch das Zimmer, in dem Betti gestorben ist. ,Ich weiß nicht, ob du das aushältst‘, habe ich zu ihm gesagt.“ Bettina Krähe hat keine Angst vorm Sterben. Nachzuholen braucht sie nichts, sagt sie – nur bei ein paar Dingen, die noch kommen, da wäre sie gern dabei: „Ich will meine Enkelkinder kennenlernen und erleben, wie meine Tochter heiratet. Aber ich habe eben ein neues Mindesthaltbarkeitsdatum bekommen“, sagt sie und lacht wieder. Jammern bringe doch niemandem etwas. Und selbst über die Momente, in denen es ihr schlecht ging, sagt sie: „Es war scheiße, aber ich war da!“


„Wir Menschen sind ja nicht auf Unsterblichkeit programmiert“

Konrad Swinarski, 73 Jahre
Diagnose Hautkrebs und Lymphom

Foto: Reto Klar

Konrad Swinarski ist eigentlich die ersten 69 Jahre seines Lebens nie wirklich krank gewesen. Na klar, hier mal eine Erkältung, dort kleine Wehwehchen. „Und ich dachte schon: Es wäre komisch, gesund zu sterben“, sagt der heute 73-jährige Jurist. „Und mir war ja auch immer klar: Statistisch gesehen musste ich irgendwann mal etwas haben. Aber mein Herz ist sehr gut – ,daran werden Sie nicht sterben‘, hat mein Arzt mir immer gesagt. Also, was blieb: Krebs oder Autounfall.“ Deswegen war der Moment der Diagnose eigentlich keine Überraschung für den in Breslau geborenen Swinarski, der zwei Kinder aus „fünf ernsten Beziehungen“ hat. „Wir Menschen sind ja nicht auf Unsterblichkeit programmiert!“

Im April 2021 kam die Diagnose Lymphom vierten Grades. „Ich hatte vor acht Jahren auch schon mal Hautkrebs, aber das fühlte sich für mich damals eher an wie eine Schönheits-OP“, sagt Swinarski mit seinem charmanten schlesischen Dialekt, der mit seinen fröhlichen Augen um die Wette feixt. Er erzählt, dass er im Februar vor der Diagnose noch in Ägypten bei der Familie eines Freundes war. „Und mein Freund hat mir gesagt: ,Konrad, du bewegst dich komisch, du bist irgendwie anders.‘ Wahrscheinlich waren das die ersten Symptome, die ich gar nicht bemerkt habe.“ Wieder zu Hause ließ er sich gründlich in einer Klinik durchchecken – und eigentlich schien alles gut zu sein, die Entlassung für den nächsten Tag war schon geplant. Swinarski erinnert sich: „Dann sehe ich am Abend beim Zähneputzen, dass meine Mandel geschwollen ist, und ich dachte: Na, dann bin ich wohl erkältet.“ Aber diesmal war es kein Schnupfen wie all die Jahrzehnte bisher. Die Entlassung wurde eine Verlegung auf die HNO-Station, es folgte eine Biopsie, weitere Untersuchungen, dann die Diagnose. „Ich habe überhaupt keine Schmerzen gehabt, das hat alle gewundert. Mich auch, denn ich habe wirklich nichts gemerkt.“ Es folgten 16 Chemotherapien, während derer Konrad Swinarski sich „nie dafür interessiert“ hat, was gemacht wurde und was er bekommt. Zum Glück ging es ihm auch während der Therapie meistens gut. „Ich habe den Ärzten immer gesagt: Macht, was ihr wollt, ihr macht das schon richtig.“ Und tatsächlich: Schließlich waren keine Krebszellen mehr da. „Mein Arzt sagte mir zwar, dass es durchaus sein kann, dass der Krebs zurückkommt – aber ich dachte: Einmal geheilt, immer geheilt!“ Doch es kam anders: Nach anderthalb Jahren war der Krebs zurück. Konrad Swinarski sagt, dass er wieder nicht überrascht war – „aber ich war sauer auf mich! Ich dachte: Du hattest anderthalb Jahre für dich, was hast du daraus gemacht? Habe Orte, die ich besuchen wollte, nicht besucht, Personen nicht getroffen, die ich treffen wollte, und Familiendokumente nicht sortiert und geregelt, die ich regeln wollte. Und warum? Weil ich immer dachte: Ach, ich hab noch so viel Zeit.“ Dennoch hadert er nicht mit seinem Schicksal: „Ich bin doch ein Mensch, der das Leben kennt. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Und so muss es ja kommen. Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Wenn ich daran denke, dann denke ich an Ruhe.“ Nur an einem einzigen, festen Ort wäre er dann ungern. Darüber habe er gerade auch mit seinem Sohn gesprochen. „Es gibt die Möglichkeit, dass die Asche in die Oder gestreut wird. Dann fressen mich die kleinen Fische, und die kleinen Fische werden von den großen Fischen gefressen – und so komme ich überallhin“, sagt Konrad Swinarski. Aber sein Sohn habe ihm gesagt, er brauche einen Ort, an den er gehen könne, an dem er seinen Vater irgendwie noch habe. „So haben wir ganz natürlich darüber gesprochen, und das sollte man in der Familie immer tun. Genauso wie man darüber spricht und plant: An Weihnachten fahren wir zu Tante Hilda …“ Konrad Swinarski ist übrigens ein leidenschaftlicher Poker-Spieler – aber absolut keine Spielernatur, wie er betont. Und auch sein Leben vergleicht er gern mit einem Poker-Spiel. „Du hast keinen Einfluss darauf, was für Karten du bekommst – aber nur von dir hängt ab, wie du sie spielst“, sagt er, und seine Augen blitzen wieder fröhlich auf. Natürlich sei sein Körper heute schwächer als früher, aber sein Denken sei noch besser und schneller als früher. „Als hätte mein Gehirn mehr Speed durch die Chemo, die Bluttransfusionen und all die Medikamente. Mein Körper kann da nicht mehr mithalten.“ Aber das sei gut so, er sei zufrieden mit sich und als Mensch fühle er sich durch die Erfahrungen mit der Krankheit sogar besser als früher. Oder, um es als Poker-Spieler zu sagen: „Ich war schon immer mit den Blättern zufrieden, die ich im Leben bekommen habe.“


„Mach das Schicksal anderer nie zu deinem eigenen“

Kerstin Haake, 44 Jahre
Diagnosen zweimal Brustkrebs

Foto: Reto Klar

Es ist ein Gendefekt. „BRCA1“ der medizinische Fachbegriff. Kerstin Haake erfuhr davon Ende 2020. Da bekam die damals 40-Jährige ihre zweite Brustkrebs-Diagnose. Die erste war bereits zwölf Jahre her. „Ich hätte mich schon bei der Diagnose 2008 auf den Defekt testen lassen können – meine Mutter war kurz vor mir an Brustkrebs erkrankt und ich wurde zu einer genetischen Beratung eingeladen“, sagt die heute 44-jährige Beamtin im öffentlichen Dienst. „Ich habe mich damals dagegen entschieden. Ich wollte das nicht wissen.“

27 Jahre war Kerstin Haake damals alt. Erst hieß es, sie habe eine Zyste, die sich wohl zyklusabhängig veränderte. Erst mal abwarten – erst mal mit den Freundinnen in den Urlaub nach Südostasien. Der jungen Frau war klar, dass da was in ihrer linken Brust war, es wuchs und war deutlich sicht- und tastbar. „Aber ich hatte einfach kein Bild von Krebs, und das, obwohl meine Mutter ja kurz zuvor ebenfalls erkrankt war.“ Der Termin nach dem Urlaub im Brustzentrum zwang Kerstin Haake dann aber dazu, ein Bild von Krebs zu haben: Brustkrebs, aggressiv und schnell wachsend, aber mit guten Heilungschancen. „Und deswegen bin ich da auch positiv rangegangen: Meine Mama hat das auch geschafft – sie ist da durchgegangen und gut rausgekommen: So mache ich das jetzt auch.“ Kerstin Haake war damals Single, ging noch einmal ordentlich feiern und tanzen, bevor die Chemotherapie startete. „Nach der ambulanten Chemo bin ich immer für zwei Tage mit zu meinen Eltern gegangen, damit ich nicht allein war.“ In all der Zeit war und blieb sie optimistisch – diese Einstellung und ihre Freunde und Familie hätten sie durch diese Zeit getragen. Und alles wurde gut. Kerstin Haake heiratete und bekam zwei Töchter, die heute neun und zwölf Jahre alt sind. „Das ist wirklich seit der ersten Diagnose das Schönste, was mir passiert ist: dass mein Körper die erste Chemo so gut überstanden hatte, dass ich zwei Kinder bekommen konnte, ohne dass ich Unterstützung brauchte.“ Ende 2020, Kerstin Haake war 40 Jahre alt, folgte dann die zweite Diagnose, den Tumor hatte sie selbst ertastet. Die OP folgte schnell, „ich wollte nicht mit dem Krebs Weihnachten feiern“. Im Januar 2021 begann die Chemo, dazu folgte die Entfernung der Eierstöcke und Eileiter wegen des Gendefekts – auch bei ihrer Mutter. „Wir haben zusammen ein Doppelzimmer in der Charité gebucht“, erzählt Kerstin Haake, die mit ehrlichem Optimismus und feinem Humor über ihre Krankheitsgeschichte spricht. Auch über die nachfolgenden Monate, in denen die Entfernung des Brustdrüsengewebes und der Aufbau der Brüste viel Kummer bereitete: schlechte Heilung, Infektion, wieder gestörte Wundheilung. „Ich hatte drei OPs in sieben Wochen“, erinnert sich Kerstin Haake. „Ich konnte die Charité nicht mehr sehen und habe gesagt: Ganz ehrlich, ich komme erst wieder, wenn ihr hier tapeziert!“ Ihr Weg ist bis heute nicht beendet, der Brustaufbau läuft noch immer. Aber Kerstin Haake ist sich ohnehin bewusst, dass sie „das Thema Krebs nicht mehr abhaken“ kann in ihrem Leben. „Nach der ersten Erkrankung konnte ich das. Ich war jung und habe einfach mein Leben wieder aufgenommen.“ Heute geht das nicht mehr. Weil Freundschaften entstanden sind, „Krebsfreundschaften“. Und natürlich auch, weil Kerstin Haake zwei Töchter hat. „Die Ärzte haben damals gesagt: ,Am besten wäre es, Sie bekommen Kinder bis zum 35. Lebensjahr – und am allerbesten kriegen Sie Jungs.‘ Ich hoffe also sehr, dass die Medizin sich weiterentwickelt, sodass meine Töchter das dann nicht erleben müssen.“ Aber Kummer und Sorgen bestimmen ihren Alltag nicht: „Momentan habe ich beschlossen, dass das mein Jahr wird! Ich liebe und feiere das Leben“, sagt Kerstin Haake, und man glaubt ihr sofort. „Ich habe mein Leben nicht umgestellt, meine Ernährung nicht verändert und ich verzichte auch nicht komplett auf Alkohol. Zu den Krebspatienten gehöre ich nicht.“ Und bei ihr überwiegen die Gedanken der guten Momente: „Ich werde steinalt, ich habe alles getan, um den Gendefekt auszuschalten.“ Und doch kann in den schwachen Momenten „jedes Zipperlein“ eine neue Diagnose sein und die traurig verlaufenden Geschichten anderer Krebspatienten ein Dämpfer. Aber eines hat Kerstin Haake gelernt: „Mach das Schicksal anderer nie zu deinem eigenen! Das ist das, was dich am Leben hält, und das ist das, was zählt!“


„Die Krankheit ist wie der Tod eines besten Freundes“

Michael Hölzl, 51 Jahre
Diagnose Mantelzelllymphom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Michael Hölzl ist wahrscheinlich das, was man einen Lebemann nennt. Viel harte Arbeit, viel gutes Leben, häufig auf der Überholspur. Bestens ausgebildet, wortgewandt. Ein Macher. Bis es Ende Mai 2020 plötzlich hieß: „Sie haben nicht mehr lange.“ Diagnose: Mantelzelllymphom, unheilbar. Der 1973 in Innsbruck geborene Hölzl hatte zuvor noch die Hoffnung, dass die pulsierende Erbse im rechten vorderen Lendenbereich, die er dort seit drei, vier Tagen spürte, ein Leistenbruch sei.

Nach ein paar abgleichenden Telefonaten mit seinem Vater und anderen Betroffenen im Freundeskreis war dem studierten Architekten schnell klar: Das war kein Leistenbruch. „Ich ging zu meinem Hausarzt, und da meinte die Ärztin nach dem Ultraschall, dass das Gerät wahrscheinlich defekt sei – sie müsse noch mal jemanden dazuholen“, erinnert sich Hölzl. „Zu zweit saßen sie dann vor dem Monitor, haben sich immer wieder wortlos angeschaut – da wusste ich schon: Das ist nicht gut. Und dann kam die Aussage: Sie stehen kurz vorm multiplen Organversagen.“ Dann ging alles sehr schnell: Es folgten verschiedene Diagnostik-Termine, eine Biopsie, dann eine zehntägige Diagnostik. 37 Kriterien wurden untersucht – wurden diese alle erfüllt, konnte Michael Hölzl an einer Studie teilnehmen. Zu diesem Zeitpunkt seine einzige Chance aufs Überleben. Die derzeit klassisch angewandte Behandlungsmethode wäre gescheitert. Nur so hat der seit vier Jahren für einen Unternehmer als Privatsekretär tätige Hölzl bis heute überlebt. „Jetzt habe ich sogar die Chance auf sechs bis sieben Jahre Ruhe, dann wird die Krankheit wohl langsam wieder starten. Aber bis dahin kann es ja auch schon wieder eine andere Medikation geben“, sagt Michael Hölzl, der seit dem Jahr 2000 in Berlin lebt. Er sagt, er habe „tiefstes Vertrauen in die Versorgungsstruktur“, und nie habe er daran gezweifelt, dass seine Therapie und seine Behandlung das Richtige sei. Mit seinem Schicksal hadern? Wozu? „Ich habe alles an meiner Behandlung sehr wertgeschätzt und tue nun selbst alles dazu, dass es meinem Körper gut geht“, erklärt Michael Hölzl. Sein Fokus im Leben hat sich ein wenig verschoben. Heute achtet er auf Ernährung, auf Pausen, gönnt sich Ruhe, wenn er merkt, dass sein Körper diese braucht. „Meine Grenzen sind anders gesteckt – früher hatte ich keine. Außer ich falle tot um.“ Auch die Wahrnehmung seines Umfelds, auch des persönlichen, habe sich geändert: „Wenn du erst mal so eine Erkrankung oder Diagnose hast, merkt man erst, was das für ein Massenphänomen ist. Weniger als jeder Dritte bekommt in seinem Leben eine Krebsdiagnose – ob man daran stirbt, ist dann noch einmal eine andere Frage. Auch in unserer Firma hatte jeder Dritte Krebs.“ Wer sich dessen bewusst ist, geht anders durchs Leben, kann neu sortieren. Auch Michael Hölzl hat das getan: „Mein Leben ist viel klarer geworden. Ich schätze andere Dinge, ich strukturiere mich neu und ich habe den Fokus mehr auf den prodynamischen, lebensbejahenden Dingen.“ Damit habe er schon direkt nach der Diagnose angefangen. Als er „zwei Minuten lang tiefgründig abgeklopft“ hatte, welche Wege es gebe, um sein Leben schnell zu beenden. „Die haben mir alle nicht gefallen.“ Also hat er seinen Fokus auf die Genesung gelegt und alles eliminiert, was ihm nicht 100-prozentig gutgetan hat. Bis September 2023 ging seine Behandlung. Und nun also Ruhe. Bis die Krankheit, die ja nicht weg ist, wieder ausbricht. Aber jetzt ist jetzt. Und das Wort Hoffnung mag Michael Hölzl nicht: „Ich bin kein Mensch, der hofft. Ich hasse Hoffnung. Hoffnung bringt einen nicht weiter.“ Er weiß, dass er auch viel Glück hatte, dass seine Behandlung gut angeschlagen hat, dass es ihm vergleichsweise gut ging. Auch wenn er Tage hatte, an denen er nicht wusste, wie er vom Bett in sein vor der Tür geparktes Auto kommen sollte: „Ich habe meine Krankheit ein wenig so empfunden wie den Tod eines besten Freundes. Weil ein Stück der eigenen Identität wegbricht und man danach eine andere annimmt. Man ist nicht mehr der Silberrückengorilla, der man vorher war.“ Sicher auch deshalb, weil man manchmal eben auch mitbekommt, wie schnell alles vorbei sein kann: Zweimal hat er erlebt, dass Mitpatienten plötzlich zugedeckt auf ihrem Bett liegen. Für seinen eigenen Tod ist bereits alles geregelt: „Egal, wo ich in Europa sterbe, werde ich eingesammelt und komme dann vor der Verbrennung an die Charité. Ich habe mich als Körperspender zur Verfügung gestellt“, sagt Michael Hölzl. „Als kleines Dankeschön.“


„Zeit ist das größte Geschenk, das man mir machen kann“

Anja Ackermann, 49 Jahre
Diagnose Lungenkrebs, unheilbar

Foto: Reto Klar

Den Moment, als die Krankenschwester ihren Kopf zur Tür reinsteckte und fragte: „Wie lange dauert das hier noch?“, wird Anja Ackermann niemals vergessen. Kurz zuvor hatte ihr ein junger Arzt in einem kargen Zimmer, in dem noch ein angebrochenes Mittagessen auf dem Tisch stand, mitgeteilt, dass sie einen bösartigen Lungentumor hat. Inoperabel, die Behandlung lediglich noch palliativ. Wie lange dauert das hier noch? Für Anja Ackermann ohne Therapie drei bis zwölf Monate, mit etwa zwölf Monate. Das war im Mai 2022, die Statistik hat sie immerhin besiegt.

„Ich erinnere mich noch, dass ich mich absurderweise gefreut habe – keine OP“, sagt die heute 49-jährige Bildungsberaterin. Sie hatte eine Freundin aus Hamburg bei sich damals, schließlich habe sie gespürt, dass es etwas Schlimmes ist. Sie hatte Schmerzen beim Atmen auf der linken Lungenseite. „Lungenkrebs hat leider die Eigenschaft, sich lange Zeit nicht bemerkbar zu machen. Für eine Schilddrüsenuntersuchung habe ich ein CT machen lassen. Am nächsten Tag saß ich bei der Ärztin, die mir per Mail einen Termin am nächsten Tag gesendet hatte. Man hätte da was gefunden, wahrscheinlich Krebs“, erinnert sich Anja Ackermann. Sie hat eine wunderschöne Stimme, nur ab und zu unterbrochen von einem kleinen Räuspern. „Ich habe erst geflucht, dann geweint“, sagt die studierte Kulturwissenschaftlerin. Weitere Untersuchungen folgten, dazu Biopsien – ein Monat verging, bis zu dem Tag im Mai, als die endgültige Diagnose feststand: Lungenkrebs, Endstadium. Vier Stunden hatte sie zuvor in der Lungenambulanz zusammen mit ihrer Freundin gewartet, sei „fast verrückt“ geworden. Es war nicht die erste Krebsdiagnose in ihrem Leben. Mit 29 Jahren wurde bei Anja Ackermann Brustkrebs diagnostiziert. „Meine Mutter ist jung an Krebs gestorben – ich dachte damals, jetzt passiert mir das auch.“ Doch Anja Ackermann besiegte den Krebs – damals wie heute helfen ihr Freunde. „Niemand aus meinem Umfeld hat sich zurückgezogen, niemand hat Berührungsängste gehabt“, erklärt Anja Ackermann. „Alle haben signalisiert, dass sie für mich da sind und mich unterstützen.“ Ihre erste Diagnose kam am ersten Tag ihres ersten Jobs nach dem Studium. „Ich habe danach lange am Rande der Armutsgrenze gelebt, habe Toast mit Senf gegessen, Schulden gemacht bei der Bank, die den Dispo immer weiter erhöht hat. Mit 40 Jahren kam die Insolvenz, als ich einsah, dass ich die Schulden mit meinen freiberuflichen Jobs in der Museumspädagogik nicht stemmen konnte“, sagt Anja Ackermann. „Tja, und als die Insolvenz vorbei war, kam Corona, und als Corona vorbei war, kam der Lungenkrebs.“ Und ja, manchmal hadere sie mit dem Schicksal: „Ich habe Jahrzehnte auf so viel verzichtet, bin nicht in den Urlaub gefahren, habe auf der Speisekarte immer das Billigste genommen – und natürlich wollte ich das alles irgendwann einmal nachholen. Jetzt geht das nicht mehr.“ Ein paarmal habe sie versucht, in den Urlaub zu fahren. Einmal bekam sie vorher blutigen Husten, ein anderes Mal wurde eine Metastase im Gehirn gefunden. Mit „so etwas“ fährt man nicht in den Urlaub. Im schlimmsten Fall kann bei einem geplatzten Blutgefäß, das der Tumor aufreißt, in kurzer Zeit ihre Lunge mit Blut volllaufen. „Das will ich nicht im Ausland erleben“, sagt Anja Ackermann. Der Traum vom Mittelmeer, von Sonne und barfuß am Strand bleibt genau das, ein Traum. „Ich bin einfach zu schwach.“ Es ist ein Abschied von vielen: „Eigentlich ist jeder Tag ein kleiner Abschied: Ich musste mich von der Arbeit verabschieden, von Urlauben, von Konzerten, ich bin nicht mehr so viel wach …“ Es gibt viele schlechte Momente, erzählt sie. Auch Momente, in denen sie nicht mehr leben wollte. „Denn eigentlich bin ich ganz anders, als ich es jetzt bin, viele meiner Eigenschaften sind vergraben“, sagt Anja Ackermann. „Und wenn ich mich irgendwann nicht mehr wiedererkenne, dann möchte ich eigentlich eine Pille bekommen, mit der ich einfach einschlafen kann.“ Aber da gibt es eben auch noch die guten Momente. Die Zeit, die sie mit Freunden und Familie verbringt. Die Liebe, die sie erfährt, den Zusammenhalt. „Das ist und war auch meine Motivation, die Therapien zu machen: die Aussicht auf gemeinsam verbrachte Zeit“, sagt Anja Ackermann und ergänzt: „Ich versuche, es den anderen auch nicht so schwierig zu machen, das Zusammensein für die anderen so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich versuche, möglichst wenig zu jammern und noch so viel wie möglich von der alten Anja hochzuholen.“


„Ich spürte, dass da etwas in mir heranwächst“

Hermann-Josef Krämer, 49 Jahre
Diagnose Darmkrebs

Foto: Reto Klar

Hermann-Josef Krämer hat einen langen Krankheitsweg hinter sich. Zu lang, um auf alle Details einzugehen, aber im Jahr 2002 wurde er erstmals in eine Psychiatrie eingewiesen. Von seinem Bruder. „Von da an war ich immer wieder in psychiatrischen Kliniken, bekam jahrelang Medikamente – das waren traumatische Erlebnisse“, erinnert sich Hermann-Josef Krämer. Er berichtet von falschen Diagnosen, verletztem Vertrauen und ungerechtfertigten Behandlungen. Und weil das Leben manchmal unfair sein kann, kam es im Jahr 2019 zu einem weiteren „massiven Lebenseinschnitt“, wie der Umweltschutztechniker sagt, der gebürtig aus der Eifel kommt.

„Ich hatte schon länger schwere Bauchschmerzen, wurde aber nicht immer ernst genommen.“ Und dann wäre es plötzlich beinahe zu spät gewesen: Magen- und Darmspiegelung, Not-OP, Entfernung des halben Dickdarms. Diagnose: Darmkrebs. „Ich habe in dem Moment komplett abgeschaltet und mir gedacht: Ich lasse das jetzt einfach geschehen“, erklärt Hermann-Josef Krämer. Und dennoch: Die Diagnose hat er schon länger geahnt. „Ich habe lange Zeit schon gesagt: Ich spüre, dass da etwas in mir heranwächst. Aber als es dann so weit war, fühlte es sich doch an wie in einem schlechten Film.“ Eine Chemotherapie lehnte Hermann-Josef Krämer ab, versuchte, seinem Körper mit anderer Ernährung und einem Heilpraktiker zu helfen. Doch nach einem Dreivierteljahr war ein Rezidiv da – an Bauchspeicheldrüse, Magen, Darm und Leber. „Da wurde mir dann gesagt, dass es in ein paar Monaten vorbei ist.“ Und dann kam das „Glück im Unglück“ doch zu Hermann-Josef Krämer: „Ich habe an einer Studie mit der Immuntherapie an der Charité teilgenommen“, erzählt er. „Ich habe etliche Behandlungen bekommen, und es stellte sich heraus, dass ich eine sehr seltene Gen-Anomalie, die sogenannte Mikrosatelliteninstabilität habe – bei der hätte die Chemo ohnehin nicht greifen können. Die Immuntherapie dagegen hat Wunder gewirkt. Ich war quasi tot gesagt – und jetzt vor Kurzem beim Onkologen war sowohl im CT als auch bei den Blutwerten nichts mehr festzustellen. Faszinierend!“ Körperlich ist derzeit also eigentlich alles gut – seelisch jedoch hat Hermann-Josef Krämer zu kämpfen. Wieder. Wie eigentlich immer. Sogar ein Theaterstück hat er einmal geschrieben über sich und sein Leben. „Hermanns Schlacht“ heißt es – doch, so sagt er selbst: „Diese Schlacht ist heute vorbei!“ Er habe keine Kraft mehr. „Ich kann auch irgendwie nicht diesen klassischen Weg eines Krebspatienten gehen, der nach guten Nachrichten das Leben neu plant, bewusster erlebt und mit der Einstellung ,Jetzt erst recht!‘ neuen Mut fasst. Das habe ich schon so oft im Leben leisten müssen, diese Kraft aufzuwenden für einen Neuanfang. Jetzt kann ich das nicht mehr.“ Sein Leben sei derzeit eher ein Überleben, seit Monaten lebe er zurückgezogen wie ein Eremit, viele Freunde und Bekannte habe er nun verloren. „Ich hatte früher natürlich auch den Wunsch nach einer Familie, ich habe gebrannt für den Umweltschutz“, sagt Hermann-Josef Krämer. „Aber als Psychiatriepatient und dann noch mit der Diagnose Krebs – das ist einfach zu viel, da steigen die meisten Menschen doch aus.“ Diese geringere Bereitschaft zur sozialen Interaktion bei den Menschen in seinem Umfeld oder in der Gesellschaft allgemein hat seiner Meinung nach auch viel mit Corona zu tun. Freundschaftsdienste, das Interesse aneinander – alles sei stark zurückgegangen. „Das sehe ich generell in der Gesellschaft, aber ich fühle mich ein wenig auch so, als sei ich aufgegeben worden von einem großen Teil meines Freundeskreises.“ Trauer und Einsamkeit schwingen mit in den Worten von Hermann-Josef Krämer. Doch dass man sich Sorgen um ihn macht, das möchte er nicht. „Ich bin nicht lebensmüde – ich bin lebensneutral. Ich habe keine Bucketlist, aber irgendwie ist diese Lethargie und Neutralität ja auch ein wenig freiwillig gewählt. Wahrscheinlich versuche ich mit dieser Neutralität auch bewusst das Hadern mit meinem Schicksal einzudämmen.“ Ein Schicksal, das, zumindest was den Krebs betrifft, immer häufiger um sich greift. Deshalb schlägt Hermann-Josef Krämer von seinem Krebs, seiner „biografischen Krankheit“, auch die Brücke zum großen Ganzen: „Krebs wird immer mehr, kommt immer früher. Ich sehe diese Krankheit wie ein Fieberthermometer unserer Gesellschaft, wie einen Gradmesser unserer Zeit. Sie sagt uns, dass es so nicht mehr geht – der Umgang mit der Umwelt und unser soziales Miteinander.“


„Der Krebs hat einen richtigen Turbo bei mir gezündet“

Melanie Sahr, 39 Jahre
Diagnosen Brustkrebs und Ohrspeicheldrüsenkrebs

Foto: Reto Klar

Es war März 2013 und Melanie Sahr „der glücklichste Mensch“, wie die heute 39-jährige Marketing-Managerin sagt. Im Januar hatte ihr damaliger Freund Sebastian um ihre Hand angehalten: „Ich dachte: Wow – das ist das, was ich zu meinem Glück noch brauche, jetzt wird alles toll, nächstes Jahr wird geheiratet und dann gründen wir unsere Familie und alles läuft nach Plan – wie im Bilderbuch!“

Aber der März 2013 sollte nicht der Beginn dieses erhofften Märchens werden, sondern schrieb eine andere Geschichte, die mit den Worten begann: Brustkrebs, triple-negativ, hochaggressiv, schnell wachsend mit sehr schlechten Prognosen. Ein harter Wandel, wenige Wochen, die alles für die junge Frau veränderten. Wie kam es dazu? „Wir wollten im Februar in den Skiurlaub fahren“, erinnert sich Melanie Sahr. „Zur Vorbereitung sind mein damaliger Verlobter und ich ins Fitnessstudio gegangen, wollten uns vorbereiten und fit sein.“ Auch Brustmuskelübungen habe sie gemacht, und plötzlich war da dieser Huckel am Brustansatz – sicht- und tastbar. „Da ich aber auch unglaublichen Muskelkater hatte, dachte ich, ich hätte mich verletzt, und war also nicht so alarmiert. Aber mein Mann fand das nicht so cool und wollte das gern sofort checken lassen.“ Nach einer Woche und keiner sichtbaren Verbesserung ging Melanie Sahr zum Frauenarzt. „Der sagte: ,Sie sind erblich nicht vorbelastet, wären Sie über 70, würde ich Sie sofort zur Mammografie schicken.‘ Er aber schickte mich nach Hause und sagte, ich sollte Voltaren draufschmieren – sagte also exakt das, was ich natürlich hören wollte. Allerdings sollte ich nach vier Wochen wiederkommen, wenn es nicht besser wurde.“ Und das wurde es nicht. Im März wurde dann sofort eine Biopsie gemacht, drei Tage später war das Ergebnis da. „Ich erhielt einen Anruf aus der Praxis, dass ich am Abend in die Sprechstunde kommen sollte – am besten mit Begleitung“, erinnert sich Melanie Sahr. „Das Warten zwischen diesem Anruf und dem Termin am Abend war das Schlimmste.“ Das war an einem Donnerstag, am Montag darauf wurde die junge Frau operiert. Es folgten anderthalb Jahre Therapie, Chemo und Bestrahlung. „Ich habe mit harten Waffen geschossen und hatte wirklich Angst, dass ich nicht mehr so lange auf dieser Welt sein kann“, erinnert sich Melanie Sahr. Dazu kamen Ängste und Trauer um das, was doch eigentlich alles noch vor ihr liegen sollte. An erster Stelle: der Kinderwunsch. Diesen musste das junge Paar in einem Kinderwunschzentrum absichern, viel Geld zahlen für etwas, das doch vor wenigen Wochen noch als ganz selbstverständlicher Zukunftsplan vor ihnen lag. „Das hat mich sehr traurig gemacht, ich litt sehr unter dem Gedanken: Warum ich? Alle haben ein ganz normales Leben, aber meines wird gerade total aus den Angeln gerissen.“ Das ist nun elf Jahre her. Und auch wenn das Leben die Geschichte anders geschrieben hat, als Melanie Sahr sich das vorgestellt hatte, musste sie doch auf das Bilderbuch nicht verzichten: Das Paar, heute verheiratet, hat einen achtjährigen Sohn und eine kleine Tochter (6). Die Familie lebt im Umland von Berlin, Melanie Sahr arbeitet – überwiegend im Homeoffice – als Marketing-Managerin. Und doch: Das mit dem Happy End blieb schwierig. Denn im Jahr 2022 kam er wieder, der Krebs – überhaupt nicht artverwandt, kein Zusammenhang mit der ersten Diagnose. Ohrspeicheldrüsenkrebs. „Ich habe voll das Handtuch geschmissen in dem Moment“, erzählt Melanie Sahr. „Ich konnte das nicht einordnen und fiel in eine tiefe Lebenskrise.“ Denn Melanie Sahr wurde klar: „Ich kann kein Häkchen setzen, das kann immer wieder kommen, wird mein stiller, treuer Begleiter und gehört zu mir. Und das ist natürlich kein Thema, was man gern zu Gast hat, aber es klopft an so viele Türen.“ Und dann wurde Melanie Sahr klar, dass sie nur eine Chance hat, mit der Geschichte umzugehen, die das Leben ihr schrieb: „Ich änderte meine Einstellung: Ich kann die Dinge nicht ändern, ich muss das annehmen. Ich stelle gar keine Warum-Fragen mehr.“ Stattdessen packt sie nun Themen an, die die eigentlich schüchterne Frau sonst vermieden hätte: „So etwas wie dieses Gespräch hier zum Beispiel. Das kann ich heute tun, weil ich mehr bei mir bin und mir mehr vertraue. Obwohl das Vertrauen in meinen Körper lange nicht existent war durch die Krankheit. Aber da komme ich immer mehr hin. Auch dass ich denke: ,Warum denn nicht? Ich habe nur jetzt, ich will mich nicht mehr in die zweite Reihe stellen!‘ Und diesen Turbo, den hat die Krankheit gezündet.“


„Natürlich möchte ich mein altes Leben noch mal zurückhaben“

Reto Klar, 57 Jahre
Diagnose Mantelzelllymphom, unheilbar

Foto: Reto Klar

Reto Klar hatte immer Energie für zwei. Mindestens. Sechs- oder Sieben-Tage-Woche, jeden Morgen eine Stunde auf dem Spinning Bike und zusätzlich abends dreimal die Woche eine Stunde joggen. Immer ruhelos, immer in Bewegung, niemals geduldig. Erschöpfung? Fehlanzeige. Pausen? Brauchte er nicht. Aber dann, ganz plötzlich, eben doch. „Meine sportliche Leistung wurde schlechter“, sagt der 57-jährige Fotograf. „Und erst habe ich gedacht, ich bin vielleicht übertrainiert.“ Außerdem war es Sommer, an einigen Tagen sehr heiß. „Ich habe mir also nicht wirklich Gedanken gemacht, dachte: Die Hitze schlaucht halt.“ Aber einmal zum Arzt das Blutbild checken schadet ja nicht. Reto Klar war entspannt – schließlich war er nie krank, sein Körper funktionierte immer.

Und dann klingelte das Telefon, am Abend der Blutentnahme, gegen halb neun. „Das war mein Hausarzt, der mich drängte, direkt ins Krankenhaus zu fahren“, erinnert sich der Vater zweier Töchter (15 und 17 Jahre). „Mein Hb-Wert lag bei knapp unter sechs – normal sei alles zwischen 12 und 14.“ Der erste Verdacht: innere Blutungen, eventuell ein Magengeschwür. Reto Klar fuhr direkt ins Krankenhaus, und „von dem Moment an war ich in der Maschinerie“. Der schlechte Blutwert bestätigte sich, aber da alle anderen Werte gut waren und er erstaunlich fit wirkte, durfte Reto Klar wieder nach Hause. Zunächst. Denn es folgte eine stationäre Aufnahme, um weitere Untersuchungen zu machen. Dafür lag der leidenschaftliche Rennradfahrer auf der Onkologie. „Das legte ja nahe, welcher Verdacht bestand.“ Eine Biopsie des Knochenmarks sollte Klarheit bringen. „Ich durfte wieder nach Hause, und man sagte mir, wenn ich in den nächsten Tagen nichts höre, sei das ein gutes Zeichen – dazu bekam ich einen Termin zur sogenannten Blutsprechstunde etwa zwei Wochen später.“ Das Telefon blieb ruhig – und Reto Klar dachte sich: Glück gehabt! Am 6. Oktober 2023 dann der Tag der Sprechstunde. Reto Klar ging allein hin, guter Dinge, morgens um acht schon, er hatte ja schließlich noch viel zu tun. Aber die Ärzte auch – und der Termin war für halb zwölf eingetragen. „Ich blieb aber dort und saß also dreieinhalb Stunden auf dem Flur.“ Dann schaute der Arzt auf seine Zettel, schaute den Mann vor sich an und sagte diesem dann, dass er ein Mantelzelllymphom habe. „Das hat mir natürlich überhaupt nichts gesagt, aber ich habe an seinem Blick gesehen, dass das nichts für die leichte Schulter war. Und dann brach eine Welle über meinem Körper zusammen. Ich war nicht mehr aufnahmefähig und fühlte mich, als würde ich immer weiter wegrutschen von dieser Szenerie.“ Durch einen dumpfen Schleier erreichten ihn Worte wie „unheilbar“ und „Lebenserwartung“. Nach heutigem medizinischen Stand liege die bei etwa zehn Jahren. Diese erste Phase nach der Diagnose war für Reto Klar die schwerste: „Ich hatte Fragen über Fragen. Wie lange bleibt mir? Was mache ich mit der Familie? Das hat mich mitgenommen. Meine Frau und meine Töchter haben natürlich einen besonderen Stellenwert, sie sind meine Bezugspersonen – aber eben auch diejenigen, um die man sich sorgt und die man nicht belasten will. Und trotzdem die Nähe braucht.“ Die Arbeit nahm - wie schon immer in seinem Leben - eine ganz besondere Rolle ein. „Sie war wie eine Leitplanke durch diese Zeit.“ Außer den Klinikaufenthalten für die stationären Chemos hat Reto Klar keinen Arbeitstag verpasst. Sechs Chemos bekam er, drei stationär, drei ambulant. Die Nebenwirkungen: minimal. Nervenkribbeln, schlechteres Hörvermögen, Hautprobleme. Viel schlimmer als die körperliche Belastung aber war die psychische Belastung, die durch eine Ablehnung der Krankenkasse entstand: Reto Klar war zu spät dran, um an einer Studie mit einem neuen Medikament teilzunehmen und zu früh für dessen Zulassung. „Die Krankenkasse lehnte zweimal ab, obwohl die klassische Behandlung auf dem Stand der 1980er Jahre ist.“ Noch immer ist die Behandlung nicht komplett abgesegnet. Aber sie läuft erstmal. Das hat viel Kraft gekostet. Aber auch neue Kraft hat Reto Klar gefunden - in und mit der Krankheit. „Ich erlebe eine neue Intensität in der Beziehung zu meiner Frau, erlebe familiäre Bindungen viel intensiver und habe eine weniger harte Schale als früher.“ Dazu gehören auch negative Gedanken, die ihn manchmal einholen: Wirst du jemals wieder der Alte? „In den guten Momenten ist meine Antwort: Natürlich! Und natürlich möchte ich mein altes Leben nochmal zurückhaben.“ Und ganz egal, ob altes oder neues Leben - zwei Wünsche hat Reto Klar: „Ich möchte meine Frau nochmal heiraten und meinen 70. Geburtstag erleben. Ich bin heute sehr froh, dass die Ärzte nicht wirklich voraussagen können, wie lange ich noch lebe. Das macht mich so normal wie jeden anderen gesunden Menschen. Schließlich weiß keiner von uns, was morgen passiert.“

Diese Bilder und Geschichten waren im Mai 2024 Teil einer großen Ausstellung zur YES!CON, Europas größter Krebs-Convention von und für Betroffene.

Wer ebenfalls über seine Krebserkrankung öffentlich sprechen will, der kann sich unter lebenmitkrebs@funkemedien.de melden.

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Berliner Morgenpost, 30.04.2024
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