Angriff auf die Ukraine: Auf der Flucht vor Putins Krieg

Mehr als eine Million Menschen sind auf der Flucht vor Putins Krieg in der Ukraine. Es sind vor allem Frauen mit ihren Kindern, die ihre Männer und ihre Brüder im Kriegsgebiet zurücklassen. Julian Würzer (Text) und Reto Klar (Fotos) haben sie an der ukrainischen Grenze zu Polen getroffen. Und sie haben die Ukrainerinnen gefragt, ob sie fünf Minuten Zeit für ein Porträt hätten. Einige der Frauen haben ihnen das letzte Foto mit ihren Lieben gezeigt. Das sind ihre Geschichten.

Lisa aus Kiew mit Sohn Maxim

Fotos: Reto Klar

Lisa, 32, wartet mit ihrem Sohn Maxim, 1, vor dem Bahnhof in der polnischen Grenzstadt Przemysl. Es ist Mittagszeit, in der kleinen Stadt kommen Züge mit Geflüchteten aus Lwiw, Ukraine, an. Lisa sagt, vor 24 Stunden hat sie ihre Heimatstadt Kiew verlassen. Sie habe ihren Ehemann Andrey, 32, in der ukrainischen Hauptstadt zurücklassen müssen. Er arbeitet für die Regierung, wird aber vorerst nicht zur Waffe greifen. Dennoch sorgt sich Lisa um ihn. Sie will die nächsten Wochen nah an der Grenze bleiben. Sobald es geht, möchte sie wieder zurück in ihre Heimat, sagt sie.

Vasilisa aus Kiew

Foto: Reto Klar

Vasilisa, 23, treffen wir am Montag, 28. Februar, vor dem Auffanglager in Mlyny an. Der kleine Ort liegt wenige Kilometer entfernt an der Grenze. Hier wurde ein Einkaufszentrum umgebaut, um Menschen kurzzeitig aufzunehmen. Vasilisa sagt, dass sie als der Krieg ausgebrochen ist, aus Kiew geflüchtet ist. Vier Tage hätte die Flucht gedauert. Sie berichtet, dass der Stau vor der Grenze mehrere Kilometer lang gewesen sei. Menschen mussten oftmals viele Kilometer zu Fuß zurücklegen. Sie will in Polen weiterstudieren.

Iamze aus Odessa

Foto: Reto Klar

Iamze, 75, steht zusammen mit ihrem Ehemann, ihrem erwachsenen Sohn und ihrer erwachsenen Tochter vor dem Bahnhof in Przemysl, als wir sie fragen, ob sie Zeit für ein Porträt hätte. Sie erzählt, dass die Strapazen der vergangenen drei Tage hart gewesen seien. Von Odessa seien sie bis nach Polen gefahren. Doch nun wüssten sie nicht, wie es weitergeht. Ihr Sohn habe Freunde in Bremen, aber wie lange sie dort leben können, ist ungewiss. Die Familie sei wenigstens glücklich, dass sie es geschafft hätten. Das Porträtbild entstand an einer Hauswand vor dem Bahnhof.

Iryna aus Schytomyr

Fotos: Reto Klar

Am Bahnsteig 1 in der kleinen Stadt Przemysl treffen wir Iryna, 49. Als wir mit ihr ins Gespräch kommen, erzählt sie, dass sie aus Schytomyr kommt. Das ist eine Stadt im Westen von Kiew mit rund 270.000 Einwohnern. Am Samstag, zwei Tage nach Kriegsbeginn, ist sie in einen Zug in Richtung Polen gestiegen und zwei Tage danach kommt sie sicher an. Doch Iryna sorgt sich um ihren Sohn Eduard. Der 22-Jährige wurde für die Reservistenarmee „Territorial Defense“ eingezogen. Dort lernt er zunächst den Umgang mit der Waffe. Wenn die ukrainische Armee Verstärkung benötigt, muss er möglicherweise gegen die russischen Truppen kämpfen.

Anna aus Tscherkassy mit Sohn Bogdan und Tochter Nadja

Foto: Reto Klar

Zurück im Auffanglager in Mlyny, Montagvormittag. Vor einer Stunde ist Anna, 40, mit ihrem Sohn Bogdan, 9, und ihrer Tochter Nadja, 2, angekommen. Sie warten auf einen Bekannten, der sie weiterfahren will. Die Familienmutter ist aus Tscherkassy im Südosten Kiews geflüchtet. Zwei Tage habe die Fahrt gedauert. Sie hofft, dass ihrem Mann nichts passieren wird und sie sich eines Tages wiedersehen. Er wird das Land verteidigen, sagt sie. „Meine Aufgabe ist es, mich um die Kinder zu kümmern.“ Während wir sprechen, schaut ihr Sohn neugierig auf unsere Kameras.

Krystyna aus Kiew

Fotos: Reto Klar

Krystyna, 28, brauchte drei Tage mit dem Auto von Kiew bis ins Auffanglager Mlyny in Polen. Sie stand in kilometerlangen Staus. Zum Schluss ließ sie den Wagen stehen und ging zu Fuß über die Grenze. Als wir sie porträtieren lacht sie und und post ein bisschen. Sie erzählt auch, dass sie nach Ägypten will. Doch als wir sie nach einem Foto fragen, wirkt sie schlagartig trauriger. Sie zeigt ein Bild mit ihrem Bruder aus glücklicheren Tagen, beide tragen Sonnenbrille bei offensichtlich warmen Temperaturen. Nun werde Vladislav, 33, in der Ukraine zur Landesverteidigung eingezogen.

Daria aus Winnyzia

Foto: Reto Klar

Daria, 18, wartet in einer dicken grünen Decke vor dem Auffanglager in Mlyny. Sie ist mit ihrer Schwester hier. Die beiden jungen Frauen sind 18 Stunden lang mit dem Auto von Winnyzja, eine Stadt in der Landschaft Podolien, bis an die Grenze gefahren. Als der Stau nicht mehr voranging, hätten die beiden den Wagen abgestellt und seien die restlichen Kilometer zu Fuß gelaufen. So wie Daria geht es in diesen Tagen vielen Frauen aus der Ukraine. Sie haben Angst vor dem Krieg und wollen nicht länger in ihren Autos warten. Also laufen sie. Eines Tages würde sie gerne zurück in die Ukraine – wenn der Krieg vorbei ist.

Dasha und Tochter Ewangelina (5 Monate) aus Krywyj Rih

Foto: Reto Klar

Am Dienstagvormittag ist die Situation am Bahnhof in Przemysl nicht mehr so chaotisch wie die Tage davor. Es gibt mittlerweile einige Strukturen, einige Bereiche sind von der Polizei abgesperrt. Vor einem Ausgang warteten am Wochenende noch hunderte Menschen, um den Geflüchteten eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Nun steht Dasha, 32, mit einem Kinderwagen dort. Fast entspannt schiebt sie den Wagen mit Tochter Ewangelina, 5 Monate, vor sich her. Sie kommt aus der Großstadt Krywyj Rih und hat zwei Tage lang benötigt, um bis nach Polen zu kommen. Sie hat keinen Mann, den sie zurückgelassen hat.

Elena und Tochter Sophia aus Krywyj Rih

Fotos: Reto Klar

Dasha hat Elena während der zweitägigen Fahrt mit dem Zug nach Polen kennengelernt. Die 40-Jährige ist mit ihrer Tochter Sophia, 11, auch aus Krywyj Rih geflohen. Für das Foto haben wir die Tochter gefragt, ob sie ihr Meerschweinchen für einen Moment aus der Box nehmen könnte. Es heißt Knopa. Zunächst verneint sie. Nachdem ihre Mutter mit ihr spricht, stimmt sie dann doch zu. Viele der Geflüchteten aus der Ukraine haben Haustiere dabei, auf dem Bahnsteig sehen wir Hunde und Katzen. Doch dieses Meerschweinchen war das einzige, das wir entdeckt haben.

Inna aus Kiew

Foto: Reto Klar

Inna, 41, hat drei Tage lang kaum geschlafen. Die Nachrichten aus der Ukraine machen ihr Angst, und sie sorgt sich, um ihre Eltern. Sie seien in Kiew geblieben. Inna hingegen nimmt ihre Tochter einen Tag nachdem Putin seine Armee befehligt, die Ukraine anzugreifen, an der Hand, und sie setzen sich in den Zug nach Polen. Es sind vor allem Frauen mit ihren Kindern, die in den ersten Tagen über die Grenzen kommen. Inna weiß noch nicht genau, wo sie hingehen wird. Sie sei aber froh, dass es ihrer Tochter und ihr bislang gut geht.

Lena aus Kiew

Fotos: Reto Klar

Lena, 37, ist eine Freundin von Lisa. Beide warten zusammen am Bahnhof von Przemysl – ihre Männer arbeiten zusammen für die Regierung. Sie ist mit ihrem Sohn Vicheslav, 10, vor 42 Stunden aus Kiew aufgebrochen, um an die polnische Grenze zu gelangen. Sie will zunächst für wenige Wochen an der Grenze bleiben und hofft, dass sich die Situation in der Ukraine verbessert und sie bald zurück in ihre Heimat kann. Auf dem Smartphone zeigt sie ein Bild ihres Ehemanns bei einem Ausflug auf einem See. Er heißt Andrey und ist 39 Jahre alt.

Irma aus Odessa

Foto: Reto Klar

Irma, 47, wartet vor dem Bahnhof in Przemysl als wir sie ansprechen. In ihre Jacke hat sie ihren Hund Simba eingewickelt. Es sei sonst zu kalt für ihn, sagt sie. Sie ist die vergangenen drei Tage von Odessa durch die halbe Ukraine bis an die polnische Grenze gefahren, um dem Krieg zu entkommen. Sie könne nicht sagen, was sie in ihrem neuen Leben erwartet, sie hofft in Polen eine Arbeit zu finden, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Lisa aus Mykolaiw

Fotos: Reto Klar

Auch Lisa, 18, wartet vor dem Bahnhof in Przemysl, als wir sie porträtieren wollen. Sie reist allein. Sie erzählt, dass sie ihre Heimatstadt Mykolaiw in Eile verlassen musste, nachdem der Krieg begonnen hat. Drei Tage habe sie bis nach Lwiw gebraucht und von dort aus nochmals Stunden bis sie endlich mit dem Zug über die Grenze fahren konnte. Wir fragen sie, ob sie Menschen in der Ukraine zurücklassen musste, und sie zeigt uns ein Bild mit ihrer Mutter und ihren Großeltern. Sie sagt, ihre Mutter Uliana bleibe bei ihren Großeltern, Lydmila und Leonid, weil diese zu alt zum Reisen seien.

Anastasiia aus Winnyzia

Foto: Reto Klar

Anastasiia, 27, ist die Schwester von der in die grüne Decke eingewickelten Daria. Die beiden kommen zusammen aus Winnyzia und erzählen einer 18-stündigen Fahrt von ihrer Stadt bis über die Grenze. Während Anastasiia vor dem Auffanglager in Mlyny erzählt, fahren hinter ihr immer wieder Busse mit weiteren Geflüchteten aus der Ukraine vor. Es sind viele Frauen mit Kindern, die aussteigen. Die meisten von ihnen werden direkt abgeholt von Bekannten oder Verwandten. Auch Anastasiia wartet auf einen Bekannten, der sie weiterfahren will.

Lara aus Kiew

Foto: Reto Klar

Lara, 44, treffen wir ebenfalls am Bahnhof im polnischen Przemysl. Im Hintergrund ist derzeit viel los, Menschen strömen in den Bahnhof, dazwischen Journalisten und Polizisten. Lara erzählt, dass sie am Samstag aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew geflüchtet sei. Dort habe sie Raketen und Explosionen gehört. Die Situation in der Stadt sei schrecklich. 14 Stunden habe sie benötigt, um aus der Ukraine hierher zu gelangen. Sie ist überzeugt, dass sie eines Tages zurückkehren kann.

Natalia aus Kiew

Fotos: Reto Klar

Natalia, 36, ist am Freitagmorgen aus Kiew geflohen. Zusammen mit ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann Ronald. Er ist Kameruner und konnte deshalb ausreisen, aber Natalia musste sich an der Grenze von ihm trennen. Sie kam schon am Samstag an, ihr Ehemann Ronald erst spät am Sonntag. Er spricht von Diskriminierung an der polnisch-ukrainischen Grenze gegenüber afrikanischen Geflüchteten. Nachdem wir Natalia porträtieren, zeigt sie uns ein Bild ihres Ex-Mannes Alexander. Sie sorgt sich auch um ihn, schließlich ist er der Vater ihrer beiden Kinder. Und als Soldat wird er für Freiheit in der Ukraine kämpfen.

Olga mit Kristina aus Krywyj Rih

Foto: Reto Klar

Olga, 31, ist mir ihrer Tochter Kristina, 11, aus Krywyj Rih, der 625.000-Einwohner-Stadt im Osten der Ukraine. Olga erzählt von zwei langen Tagen im Zug, die sie verbracht haben. Die Züge sind meist überfüllt, kommen in unregelmäßigen Abständen in Przemysl an. Manchmal staut sich der Verkehr auf der Schiene so weit zurück, dass sie anhalten müssen und die Geflüchteten kurz aussteigen können. Bevor wir sie porträtieren, wartet Olga zusammen mit anderen Frauen aus ihrer Heimatstadt am Bahnhof.

Svetlana mit Tochter Natalia aus Lwiw

Fotos: Reto Klar

Svetlana, 48, und Natalia, 17, sind am Dienstag nach einer zehnstündigen Zugfahrt mit vielen Unterbrechungen aus der ukrainischen Stadt Lwiw ins polnische Przemysl gelangt. Lwiw liegt eigentlich nur 70 Kilometer von Polen entfernt. Unter normalen Umständen dauert die Zugfahrt für diese Strecke rund drei Stunden. Doch seit Russland die Ukraine angegriffen hat, flüchten viele Menschen aus der Ukraine über diesen Weg in den Westen. Es bildet sich fast ein Stau auf den Schienen. Auf dem Handyfoto ist Igor, 58, der Ehemann und Vater, zu sehen.

Vita aus Kiew

Foto: Reto Klar

Vita, 24, treffen wir am Montag am Bahnhof in Przemysl. Die junge Frau trägt ihre Katze in ihrer Jacke, damit das Tier nicht so sehr friert bei der eisigen Kälte. Die kleine Katze und einen Koffer hat Vita mitgenommen, als sie am Samstag aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew flieht. Zwei Tage dauert ihre Fahrt, nun will sie in Polen bleiben – vorerst bis der Krieg vorbei ist.

Anastasiia mit ihren Töchtern Milana und Margo aus Krywyj Rih

Foto: Reto Klar

Anastasiia, 30, ist mit ihren Kinder Milana, 9, und Margo, 11, aus Krywyj Rih geflohen. Zwei Tage hat sie mit dem Zug bis nach Przemysl gebraucht. Sie ist am Sonntag gefahren, in der Zwischenzeit gehen Satellitenbilder um die Welt, die einen mehr als 60 Kilometer langen Militärkonvoi zeigen, der sich auf die ukrainische Hauptstadt zu bewegt. Es gibt Berichte über Raketenbeschuss und Explosionen. Ich habe Angst um meine Kinder gehabt, sagt Anastasiia. Nun sind sie in Polen erst einmal in Sicherheit.


Von Reto Klar (Bilder), André Pätzold (Redaktion) und Benja Zehr (Programmierung).

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