Ukraine-Russland-Krieg in Fotos: Getötet in Putins Krieg

Der Vater, die Tochter, der Verlobte: Jeden Tag verlieren Menschen in der Ukraine einen ihrer Lieben durch Putins Krieg – getötet durch Raketen, erschossen aus nächster Nähe, gefallen im Gefecht. Jan Jessen (Text) und Reto Klar (Fotos) waren in der Ukraine bei den Hinterbliebenen der Toten.

Evhen Kylichenko, gestorben mit 30 und Dmytro Kylevets, gestorben mit 36

Foto: Reto Klar

Auf dem kleinen, grün überwucherten Friedhof von Dovzyhk liegen Evhen und Dmytro neben ihrer Mutter, die im vergangenen Jahr im Januar gestorben ist. Sie war neun Jahre pflegebedürftig, und Evhen, Dmytro und ihre Geschwister haben sich bei der Betreuung abgewechselt. Dmytro, der Introvertierte, der gerne Angeln ging und seinen Lebensunterhalt auf dem Bau verdiente, Evhen, der abenteuerlustig, ein begeisterter Fußballspieler und bei der Luftwaffe war. Iryna und Mykola können immer noch nicht fassen, was ihrer Familie Mitte März widerfahren ist.

Damals hatten die Russen Dovzyhk besetzt, ein 200-Seelen-Dorf nahe Tschernihiw im Norden der Ukraine. Am 18. März wird in der Nähe des Dorfes ein russischer Konvoi angegriffen, einige Offiziere sterben. Als Reaktion durchsuchen russische Soldaten die Häuser in Dovzyhk. „Sie haben in unserem Haus die Tasche von Evhen mit seiner Uniform, einer Pistole und Seilen für Fallschirme gefunden“, erzählt Iryna. Die Soldaten nehmen die drei Brüder mit, verhören sie, schlagen sie.

Zwei Tage später bringen sie sie zu einem Waldstück. „Wir mussten uns in eine Grube legen, dann haben sie auf uns geschossen“, erzählt Mykola. Eine Kugel durchschlägt sein Gesicht, die Narbe ist noch gut zu sehen. Die Russen verscharren die Brüder. Mykola kämpft sich aus dem Grab, schafft es zurück nach Dovzyhk zu seiner Schwester. Am 18. April werden die Leichen seiner Brüder exhumiert. Es ist der Geburtstag von Evhen. Am 21. April werden sie neben ihrer Mutter beerdigt. Es ist der Geburtstag von Dmytro.

Yaroslav Dzybenko, gestorben mit 37

Foto: Reto Klar

Peremoha ist ein Dorf östlich von Kiew. Yaroslav Dzybenko hat hier auf dem Hof seiner Eltern Valentyna und Volodymyr gelebt. In seinem Zimmer hat seine Mutter Fotos von ihm aufgestellt. „Yaroslav war ein Patriot“, sagt sie. Auf einem Stuhl steht noch seine Gitarre. Vor ein paar Jahren war ihr Sohn in der ukrainischen Ausgabe der TV-Show „Supertalent“ zu sehen. Vor allem, sagt seine Mutter, hat Yaroslav die Freiheit geliebt.

Als am 24. Februar der Angriff auf die Ukraine begann, wollte ihr Sohn Peremoha verteidigen. Zusammen mit seinem Cousin Dimitro stellte er Molotowcocktails her. Zum Einsatz kamen sie nicht. Am Abend des 28. Februar rückten die Russen in das Dorf ein. Kurze Zeit später erschossen sie Yaroslav und Dimitro.

Ein russischer Offizier erlaubte den Nachbarn, die beiden zu beerdigen. Yaroslav hatte kein Gesicht mehr, sie erkannten ihn nur an seinen Kleidern und seiner Statur. Sein Vater verschwieg der Mutter zunächst Tod ihres Sohnes. Er hatte Angst, sie könnte etwas Unüberlegtes tun. Erst nach dem Abzug der Russen einen Monat später erfuhr sie, was ihrem Yaroslav geschehen war. Am 11. April wurde er ein zweites Mal beerdigt. Insgesamt starben während der russischen Besatzung 17 der etwa 1100 Einwohner von Peremoha.

Katia Hyla, gestorben mit 24

Foto: Reto Klar

Als ihr kleiner Bruder sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine freiwillig zur Armee meldet, hat Katia Hyla für ihn einen Helm und eine Schutzweste besorgt. Sie selbst glaubte sich in Sicherheit. Winnyzja ist Hunderte von Kilometern entfernt von den umkämpften Orten im Süden und Osten. Aber jetzt steht ihr Bild mit einem Trauerflor auf einem Tisch im Wohnzimmer des Hauses ihrer Eltern im kleinen Dorf Zhyhalivka, und ihre Mutter und ihre Großmutter erzählen von ihr. Sie weinen, denn Katia ist tot, verbrannt bei einem russischen Raketenangriff am 14. Juli.

„Sie war ein freundliches Kind, sie hat uns immer bei der Arbeit mit den Kühen und den anderen Tieren geholfen“, sagt ihre Mutter Tetiana. Nachdem sie vor sieben Jahren in die Stadt ging, um dort das College zu besuchen und zu studieren, kam sie jedes Wochenende zurück in ihr Heimatdorf. „Sie hat mir immer Kuchen und Süßigkeiten mitgebracht“, erinnert sich Großmutter Lybov, mit der sich Katia gemeinsam mit ihrem Bruder ein Zimmer geteilt hat. Ihre Tochter habe davon geträumt, sich einmal ein Motorrad kaufen zu können. Sie liebte eingelegte Gurken und ihre Mutter hatte schon zwei Gläser vorbereitet. Katia konnte sie nicht abholen.

Am Morgen des 14. Juli schlägt eine Rakete nahe dem medizinischen Zentrum ein, in dem Katia als Rezeptionistin arbeitete, um ihr Studium zu finanzieren. Als sie beerdigt wird, trauert das gesamte Dorf um sie. Katia Hyla wird mit einem weißen Brautkleid bestattet, so ist es hier Tradition, wenn eine unverheiratete junge Frau stirbt. Das Kleid müssen sie in den Sarg legen. Ihr Körper ist zu verbrannt, um ihr das Kleid anzuziehen.

Oleksander Monastyrska, gestorben mit 50

Foto: Reto Klar

Wenn man an dem kleinen Strand am Kutschurhan vor dem Ortseingang von Lymanske sitzt, dann fällt der Blick auf ein großes Kraftwerk, das wenige Kilometer entfernt in den Himmel ragt. Es ist kein idyllischer Ort. Aber für Oksana Monastyrska und ihre Tochter Dasha ist es der schönste Ort der Welt. Hier haben sie mit Oleksander gesessen und geangelt, hier hat er seinen 50. Geburtstag gefeiert. „Wir haben zusammen ein wundervolles Leben gelebt“, sagt Oksana.

Vor dreizehn Jahren lernten sich die beiden kennen, sie war Ticketkontrolleurin, er Soldat. Sie verliebte sich in sein Lächeln und irgendwann schlief sie an seiner Schulter ein. Lymanske an der Grenze zu Transistrien, dem von Separatisten kontrollierten Landstrich im Osten der Republik Moldau, ist eine Soldatenstadt. Nachdem sie Oleksander geheiratet hatte, ging auch Oksana zu Armee. Dasha spielt Fußball wie ihr Vater.

Am 24. Februar, als der russische Überfall auf ihr Land beginnt, ist Oleksander in der Nähe von Mykolajiw stationiert. „Mach dir keine Sorgen“, sagt er zu seiner Frau am Telefon. Sechs Stunden später erfährt sie, dass er tot ist. Noch immer liegt Oleksanders Körper irgendwo in den von den Russen besetzten Gebieten. „Wir bekommen ihn einfach nicht zurück.“ Und dann überlegt sie, und es platzt aus ihr heraus: „Wissen Sie, wir sind keine Nazis. Wir sind freie Menschen und wir wollen frei bleiben.“ Ihre Tochter Dasha ist 12 Jahre alt. „Ich will auch zur Armee“, sagt sie.

Yevgen Kovalenko, gestorben mit 25

Foto: Reto Klar

Es hat ein Jahr gedauert, bis Yevgen Kovalenko Daryna überzeugen konnte, mit ihm auszugehen. Kennengelernt haben sich die beiden bei einem Konzert. Musik war Yevgens große Leidenschaft. „Er hat schon mit fünf Jahren eine Musikschule besucht. Er konnte zwar gut Gitarre spielen, aber das Wichtigste für ihn war, zuzuhören“, erzählt Daryna in Kiew.

Als Tontechniker mischte Yevgen die Konzerte vieler ukrainischer Künstler. Als im Februar der Krieg begann, verließen sie das Land, sie wollten nach Tschechien, fuhren aber erst Richtung Riga. „Auf der Autobahn hat er mir einen Heiratsantrag gemacht“, erzählt Daryna.

Yevgen bekommt aber einen Anruf von befreundeten Musikern. Sie wollen eine Reihe von Konzerten spielen, der Erlös soll der ukrainischen Armee zugutekommen. Daryna ist dagegen, aber Yevgen sagt, er müsse etwas für sein Land tun. Also reisen sie in die Ukraine zurück. Sie bleibt im Westen des Landes. Er kommt am Morgen des 14. Juli in Winnyzja an. Eine halbe Stunde später schlagen zwei russische Kalibr-Raketen in dem Konzertsaal des früheren Luftwaffen-Hauptquartiers der Stadt ein. Yevgen Kovalenko wird schwer verletzt. Er stirbt kurze Zeit später im Krankenhaus.

Evhen Neelov, gestorben mit 48

Foto: Reto Klar

An den Tagen nachdem Evhen Neelov gestorben war, weil eine Granate in seinem Haus in Tosyanets explodiert war, da hat Vasyl immer wieder vor der Ruine gesessen, eine Zigarette für seinen Bruder angezündet und mit ihm gesprochen. „Evhen war wie ein Vater für mich“, erzählt Neelow. Die beiden waren früh auf sich selbst gestellt, der Vater hatte die Familie verlassen, die Mutter starb vor 25 Jahren. Evhen Neelov arbeitete als Fahrer von Landmaschinen, er liebte das Angeln, träumte vom Reisen.

Am frühen Nachmittag des 16. März überprüft er den Reifendruck seines Autos, am nächsten Tag will er mit seiner Familie vor der russischen Armee fliehen. Weil er draußen ist, schafft er es nicht schnell genug in den Keller seines Hauses, als die Granate heranzischt. Sie explodiert im Badezimmer. Seine Frau und sein Sohn überleben im Keller.

Evhen Neelov atmet noch, als ihn sein Bruder und Nachbarn aus einem Fenster der Ruine seines Hauses ziehen. Sein Rückgrat ist gebrochen, er hat eine klaffende Wunde am Hinterkopf und einen offenen Armbruch. „Seine Verletzungen zu sehen, war für mich sehr traumatisierend“, sagt der Bruder. Im Krankenhaus können sie nichts für Evhen tun. Sie haben keine Medikamente, kein Licht. Am nächsten Morgen stirbt Evhen Neelov.

Evgeniy Rakowskiy, gestorben mit 21

Foto: Reto Klar

Evgeniy Rakovskiy war ein sportlicher Mann, in Lymanske war er einer der besten Volleyballspieler. Wie so viele in dieser Kleinstadt im weiten Südwesten der Ukraine stammte er aus einer Soldatenfamilie. „Er wollte auch unbedingt zur Armee“, erzählt Mariia Kashkina. Die beiden verlobten sich und hatten große Pläne. „Er wollte ein Auto kaufen und ein Appartement, damit wir zusammenziehen können. Und wir wollten drei Kinder haben“, erzählt Mariia und lächelt.

2020 im Alter von 20 wird Evgeniy Soldat. Das gefiel Mariia nicht, aber er versprach, dass ihm nichts geschehen werde. Er wird nach Mariupol verlegt, der Hafenstadt am Asowschen Meer und am 28. Oktober 2021 sieht ihn Mariia zum letzten Mal.

Am 28. Februar sollte er zurück zu ihr kommen. In der Nacht auf den 24. Februar sprechen sie noch einmal miteinander. Er verspricht, alles sei in Ordnung, sie solle sich keine Sorgen machen. „Er wollte nicht, dass sich jemand um ihn Sorgen macht“, sagt Mariia. Evgeniy stirbt wenige Stunden nach dem Beginn des russischen Überfalls. „Wo sein Körper geblieben ist, weiß ich nicht. Ich würde ihn sehr gerne nach Hause bringen, aber es geht nicht“, sagt Mariia.

Serhii Pronevich, gestorben mit 30

Foto: Reto Klar

Serhii Pronevich ist auf einem kleinen Bauernhof in Boromyla bei Sumy im Nordosten der Ukraine aufgewachsen. Wie ehrgeizig er war, das ist in seinem Zimmer zu sehen. Die Wand über dem Bett hängt voller Medaillen und Urkunden, die er gewonnen hat.

2017 geht Pronevich zur Armee und dient bei einer Sportbrigade in Odessa. Sport, das ist die Liebe seines Lebens. Er läuft Marathon, stemmt Gewichte. Einmal ist er die 42 Kilometer in Stiefeln, Uniform, Schutzweste und Helm gelaufen. Er hat 4 Stunden und 36 Minuten gebraucht und das hat ihm einen Eintrag in das ukrainische Buch der Rekorde eingebracht. In Boromyla ist Serhii Pronovich eine Berühmtheit.

Als die Russen Ende Februar in Boromyla einmarschieren, filmt er ihre Konvois, schickt die Videos zum Militär. Im Dorf raunen sie, er sei ein Partisan. Seine Mutter Antonia sagt, er habe mindestens einen russischen Panzer mit einem Molotowcocktail vernichtet. „Ich habe ihn am 10. März zuletzt gesehen, da haben wir zusammen Abend gegessen, und ich habe ihn gebeten, mit den Sachen aufzuhören, die er macht, ich hatte kein gutes Gefühl“, erzählt sie. Am 27. März wird die Leiche von Serhii Pronevich am Fuß eines Sendemastes gefunden. Er hat eine Kugel im Rücken.


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