Unsichtbar  Vom Leben auf der Straße
10 Bruno 2 Patrick und Belinda 20 Frieda 14 Katy 3 Ronny 8 Kamanda 4 Eva und Martin 5 Herbert 6 Rainer 11 Stella 13 Sandra 23 Guido 24 Werner 16 Lucian 17 Christian 15 Dieter 1 Bernadette 18 Frank 19 Nick 20 Knolle 21 André 22 Judith 25 Hintergrund

»Arbeiten? Was soll ich arbeiten? Ich bin Analphabet. Mein Leben ist den Bach runtergegangen. Ich habe zehnmal einen Entzug gemacht, aber früher oder später sitzt du doch wieder am Bahnhof Zoo. Ich will raus aus Berlin, aus allem hier. Zum Entzug in den Schwarzwald.«

Bruno, 53
Seit zehn Jahren ohne feste Wohnung

Belinda: »Wir sind kein Paar, nur Kumpels. Ich hatte eine Wohnung, aber ich musste raus, weil der Vermieter sie verfallen ließ. Jetzt schlafe ich in einer alten Fabrik.« Patrick: »Momentan bin ich mit Punks unterwegs. Da ist man nicht allein.«

Patrick, 20 und Belinda, 28
Wohnunglos

»Absturz. War programmiert. Ich tingele seit sechs Jahren durch Berlin, mit Zwischenstopps. Aber ich habe Menschen, die mich auffangen. In der Arche in Treptow zum Beispiel.
Oder hier in der Bahnhofsmission.«

Frieda, 41
Seit sechs Jahren ohne feste Wohnung

»Ich finde, es sollte mal jemand aufschreiben, was Obdachlosigkeit für die Menschen bedeutet. Das kann sich niemand vorstellen. Der Staat behandelt Leute wie mich wie Dreck. Ich bin schwer krank, unheilbar. Durch die Straße. Ich bin abgerutscht, wie man so sagt.«

Katy, 25
Seit zwei Jahren auf der Straße

»Meine Freunde nennen mich Grinsi, weil ich immer lustig bin. Ich war fünfzehneinhalb, als ich das erste Mal auf der Straße war. Am Bahnhof Zoo habe ich Freunde, die mir mit Essen, Trinken und Zigaretten helfen. Meine Kindheit ist nicht sehr schön gewesen. Wäre es anders verlaufen, hätte ich eine Familie und eine Wohnung.«

Ronny, 27
Seit sechs Jahren auf der Straße

»Ich lebe auf der Straße, ich schlafe im Park. Ich mag es dort, die Natur,
die Vögel. Vielleicht gehe ich demnächst zurück nach Amerika. Da war ich mal in meinem früheren Leben.«

Kamanda, 40
Obdachlos

»Wir kommen beide aus Polen. Kennengelernt haben wir uns in Potsdam, vor vier Monaten, in dem Obdachlosenheim, wo wir zuletzt leben. Nach Polen zurück wollen wir auf keinen Fall. Wir haben dort kein Zuhause, keine Familie, keine Arbeit, nichts.«

Eva, 25, und Martin, 32
Aus Polen, seit vier Monaten auf der Straße

»Ich bin aus Polen weggegangen, um zu arbeiten. Ich war in Hamburg und München,
 seit zehn Jahren bin ich in Berlin. Es wird immer schwerer, Arbeit zu finden. Viele Menschen aus Osteuropa kommen nach Berlin, weil es hier Hilfe für Menschen ohne Arbeit und Wohnung gibt.«

Herbert, 38
Wohnungslos

»Ich habe seit 2006 keine feste Wohnung mehr. Ich bin mit meinem Hund Laika unterwegs, oft am Ostbahnhof. Dort haben Laika und ich viele Freunde.«

Rainer, 45
Wohnungslos

»Ich bin Tänzerin. Ich bin aus einer anderen Stadt nach Berlin geflohen, vor meinem gewalttätigen Ehemann. Jetzt will ich mein Abitur nachholen. Und in Frieden leben können.«

Stella, 24
War ein Jahr ohne feste Wohnung

»Ich bin als Kind viel weitergereicht worden, Pflegeeltern, Kinderheime, betreutes Wohnen. Meistens bin ich rausgeflogen. Vor drei Jahren bin ich nach Berlin gekommen. Ich bin einerseits froh, dass ich jetzt ein Kind haben werde. Andererseits ist es viel zu früh.«

Sandra, 22
Schwanger, seit drei Jahren obdachlos

»Ich bin eine Berliner Pflanze. Aber ich war lange in Hannover. Dort habe ich jetzt einen Schlussstrich gezogen. Ich will neu anfangen in meiner Heimatstadt. Ich habe keine Bleibe. Wohnung und Arbeit, das ist jetzt das Wichtigste.«

Guido, 45
Wohnungslos

»Ich lebe in einem Obdachlosenheim. Mit 17 habe ich meine Heimat verlassen und 20 Jahre in einem Schaustellerbetrieb gearbeitet. Man lernt, mit den unterschiedlichsten Menschen umzugehen. Ich war zuletzt fünf Wochen auf der Straße. Aus der Zeit habe ich diesen Obdachlosenausweis. Gucken Sie mal, wie traurig ich auf dem Bild aussehe.«

Werner, 62
Wohnunglos

»Ich schlafe in einer Kirche. Das Leben auf der Straße bedeutet viel Stress. Man kommt nie zur Ruhe.«

Lucian, 41
Ohne feste Wohnung

»Ich bin wegen der Arbeit nach Berlin gekommen, auf dem Bau. Dann habe ich als Koch auf den Halligen in der Nordsee gearbeitet. Das war gut, aber ich durfte den Hund nicht mitbringen. Wie es jetzt weitergeht, weiß ich auch nicht genau. Aber ich hab’s bisher immer geschafft.«

Christian, 34
Ohne feste Wohnung

»Ich komme aus einer Eisenbahnerfamilie in Friedrichshain. Nach der Wende bin ich arbeitslos geworden. Nachdem meine Mutter starb, musste ich ihre Wohnung räumen. Seitdem habe ich gar nichts mehr. An etwas Schönes in meinem Leben kann ich mich eigentlich nicht erinnern.«

Dieter, 60
Seit mehreren Jahren ohne eigene Wohnung

»Ich hatte eine Geliebte, eine bekannte Opernsängerin. Wenn sie auftrat, haben wir in Luxushotels gewohnt. Ich hoffe immer noch, dass sie mich abfindet. Oder ich werde als Musiker entdeckt.«

Bernadette, Mitte 40
Ohne feste Wohnung

»Forstarbeiter, Landschaftsgärtner, Pflasterer. Ich hatte drei Berufe. Für die Arbeit mit Steinen braucht man einen guten Blick und guten Geschmack. Wie auch beim Fliesenlegen, damit
es hinterher gut aussieht. Das ist alles vorbei. Das Leben draußen ist beschissen. Was soll ich sonst sagen?«

Frank, 53
Seit sechs Jahren auf der Straße

»Ich könnte Bücher über mein Leben schreiben. Meine Eltern. Die Erinnerung an sie möchte ich am liebsten löschen, aber es gelingt mir nicht. Ich habe wahrscheinlich mehr Schläge als Essen bekommen.«

Nick, 38
Seit einem halben Jahr auf der Straße

»Wie lange ich schon auf der Straße bin? Keine Ahnung, wirklich. Ich weiß nicht mal mehr, wie alt ich bin.«

Knolle

»Ich war zwölf und mein Vater war gerade gestorben. Dann Partydrogen, Heroin, Kokain, alles.
 Ich war drei Jahre auf der Straße. Helfer der Stadtmission haben mich aufgegabelt.
 Ich hatte offene Beine, verfault und entzündet bis auf die Knochen. Jetzt lebe ich in einer betreuten Wohngemeinschaft.«

André, 33
War drei Jahre auf der Straße

»Ich schlafe bei Freundinnen und Verwandten, ich habe kein Geld. Tagsüber bin ich mit meinem Hund Zantia fast immer unterwegs. Sie muss sich viel bewegen und lernen, den Menschen wieder zu vertrauen.«

Judith, 34

Hintergrund
  • Jeden Tag begegnen wir Menschen, die auf der Straße leben – doch oft genug schauen wir an ihnen vorbei, als seien sie gar nicht da. Wer sind sie, was ist ihre Geschichte? Was bedeutet es, obdachlos zu sein? Als wir im Februar 2014 begannen, wohnungslose Menschen zu porträtieren, wollten wir einmal nicht die typischen „Elendsfotos“ machen von Leuten in verschlissenen Kleidern und Pappbecher in der Hand. Wir wollten die Betroffenen als Menschen zeigen, die sie sind. So entstand das Projekt „Unsichtbar“.
  • Anfangs waren wir nicht sicher, wie unsere Idee aufgenommen würde. In der Bahnhofsmission am Zoo in Berlin fanden wir Unterstützung. Täglich bekommen hier bis zu 600 Menschen ein warmes Essen und Getränke, Rat und Hilfe. In einem kleinen Heizungsraum durften wir ein provisorisches Fotostudio einrichten. Hier sprachen wir zunächst mit den Gästen. Der kleine Raum bot einen Luxus, den Obdachlose meist nicht haben: Eine Tür. Dahinter konnten wir in Ruhe miteinander sprechen.
  • Als wir die ersten Fotos und Videos fertig waren, stießen wir auf viel Zustimmung. Viele Gäste fragten, ob sie auch mitmachen dürften. Am Ende verbrachten wir mehr als drei Wochen in der Bahnhofsmission am Zoo. Und lernten mehr als 50 Menschen kennen, die auf der Straße leben oder lange gelebt haben. Die jüngste war 17, der älteste um die 70 Jahre alt. Alle haben eingewilligt, dass wir sie zeigen und sie mit einem kurzen Text zitieren. Für die Videos baten wir sie, 30 Sekunden schweigend in die Kamera zu schauen.
  • In den Interviews hörten wir ganz unterschiedliche Lebensgeschichten. Es ging oft um Unglück und Ungerechtigkeit, um verlorene Eltern und Kinder, um Drogen, Straftaten und Fehler, die dazu geführt hatten, dass ein Mensch den Halt verloren hatte und durchs „soziale Netz gefallen“ war, wie man so sagt. Zwei Dinge haben uns besonders erschreckt: Die große Zahl der psychisch Kranken, die durch ihre Krankheit obdachlos werden. Und die zunehmende Zahl von Obdachlosen im Rentenalter.
  • Am Ende unseres Projekts standen neben diesem Videoprojekt ein Bildband und eine Wanderausstellung, die an vielen großen Bahnhöfen in ganz Deutschland gezeigt wird. Erste Stationen waren unter anderem Berlin-Hauptbahnhof, Frankfurt, Essen und Hamburg. Wegen der großen Nachfrage wird „Unsichtbar“ bis 2016 an weiteren zehn Bahnhöfen gezeigt. Die nächsten Termine finden Sie unten.
  • Ermöglicht hat dies zum einen der Verein Berliner Helfen e.V. der Berliner Morgenpost, der das Buch herausgibt. Der Reinerlös kommt der Arbeit der Bahnhofsmissionen in Deutschland zugute. Zweiter Unterstützer ist die Deutsche Bahn Stiftung. Sie hat die Ausstellung in den fünf Bahnhöfen ermöglicht.
  • Wir danken allen Beteiligten für ihre Unterstützung, vor allem aber natürlich den Porträtierten für ihr Vertrauen.

  • Informieren und spenden: „Hilfe für Berlins Obdachlose“ auf betterplace.org öffnen.
  • Die Bahnhofsmission am Zoo (Jebenstraße 5, 10623 Berlin) ist eine von gut 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland. In Berlin gibt es eine weitere Einrichtung am Hauptbahnhof. Träger der beiden ist die Berliner Stadtmission, die in der Stadt zahlreiche Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe betreibt. Spenden an:
    Berliner Stadtmission
    Verwendungszweck: Bahnhofsmission
    Konto 31 819 07
    BLZ 100 205 00
    Bank für Sozialwirtschaft
  • Berliner Helfen e.V. wurde 2000 von der Berliner Morgenpost gegründet. Der Verein unterstützt Menschen in Not sowie die Jugend- und Altenhilfe.
 Spenden an:
    Berliner Helfen e.V.
    Stichwort Bahnhofsmission
    Konto 3 307 100
    BLZ 100 205 00
    Bank für Sozialwirtschaft
  • Ausstellung
    19.04. - 29.04.2016 Berlin S+U Potsdamer Platz (Aufgang Sony-Center)
    12.05. - 23.05.2016 München Hbf

  • Der Bildband „Unsichtbar“ erscheint gerade in der zweiten Auflage. Sie können ihn hier bestellen
  • Buch Reto Klar, Uta Keseling: Unsichtbar – Vom Leben auf der Straße.
 52 Berliner Obdachlose im Porträt.
 Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude, 128 Seiten, 19,80 Euro. Der Reinerlös kommt der Arbeit der Bahnhofsmissionen in Deutschland zugute.
  • Der Blog Die Autoren bloggen hier über ihr Projekt.